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Langweilig ist an diesem Bike nur der Name

Playstation

Fahrberichte Ingo Gach

"Aprilia RSV4 Factory APRC ABS". Um diese Modellbezeichnung ausschreiben zu können, hätten sie das Motorrad eigentlich drei Meter lang bauen müssen. Davon abgesehen ist sie momentan ein Favorit für die Sportfraktion, die gerne auf Rennstrecken ihre Runden dreht - Adrenalin garantiert

"Aprilia RSV4 Factory APRC ABS". Um diese Modellbezeichnung ausschreiben zu können, hätten sie das Motorrad eigentlich drei Meter lang bauen müssen. Davon abgesehen ist sie momentan ein Favorit für die Sportfraktion, die gerne auf Rennstrecken ihre Runden dreht. Die Aprilia RSV4 Factory ist außerdem amtierender Superbike-Champion und hat jetzt ein ABS spendiert bekommen. Wem sich das zu sehr nach Weichspülung anhört, hat noch nie auf dem radikalen Sporthobel in die Bremse gelangt – Adrenalinausschüttung garantiert!

Atemberaubender Zeitraffer

Es ist wie in einem Film mit Zeitraffer. Die eigentlich lange Gerade wird von der Aprilia geradezu aufgesaugt, im nächsten Wimpernschlag ist auch schon die Kurve da. Voll in die Eisen, ein leichtes Pulsieren des ABS ist im Bremshebel spürbar. Die Brembo-Monoblock-Zangen verzögern brachial. Man muss sich schon mit den Oberschenkeln kräftig am Tank abstützen, sonst hebelt es einen fast über die Scheibe.

Ein knapper Zug am Lenker und die Aprilia klappt beinahe wie von selbst in Schräglage. Der Boden kommt atemberaubend nah, der Knieprotektor schleift vernehmlich über den Asphalt, doch das Motorrad liegt absolut ruhig. Ab dem Scheitelpunkt wird das Gas aufgerissen. Der göttliche V4-Motor leistet maximal 184 PS und unter normalen Umständen wäre die Aktion „Gas in Kurve aufreissen“ eine schlechte Idee und würde unweigerlich zum Abflug führen. Doch eine hochsensible Traktionskontrolle greift in Millisekunden ein und verhindert ein Durchdrehen des Hinterreifens. Der Rechner liefert dem breiten 200er-Pneu optimalen Grip und die Aprilia zieht wie auf Schienen aus der Kurve.

Schnell schon im Stand

Schon optisch macht die RSV4 Factory viel her: die schwarz-rote Lackierung wirkt aggressiv und die goldenen Schmiedefelgen runden das edle Bild ab. Einige Karbonteile erfreuen das Kennerauge, das winzige Heck bietet nicht viel Platz, macht aber einen ungemein sportlichen Eindruck.

Überhaupt ist das Motorrad ungeheuer filigran geraten, man vermutet kaum eine 1000er in ihr. Die Stummellenker sitzen tief und zwingen den Fahrer in Verbindung mit den hohen Rasten in eine Angriffsposition. Nicht bequem, aber effektiv.

Champion mit Handicap

Die RSV4 Factory darf stolz von sich verkünden, amtierender Superbike-Champion zu sein. Max Biaggi errang mit ihr souverän den Titel. Das war die Aprilia schon einmal 2010, doch paradoxerweise schlug sich das nicht auf die Verkaufszahlen nieder. Ihr hing der Ruf der Unzuverlässigkeit an, nachdem bei der Präsentation des Factory-Modells 2009 auf der Rennstrecke in Mugello gleich in fünf Maschinen die Pleuel brachen. Das war natürlich der Supergau, denn die eingeladenen Journalisten berichteten umgehend darüber. Seitdem hat Aprilia kräftig nachgebessert, das Motorrad ist deutlich zuverlässiger, dennoch ist sie immer noch kein Verkaufserfolg, was aber auch am happigen Preis von 22.790 Euro liegen dürfte.

Mit Vorsprung aus der Kurve

Doch wer sich auf sie einlässt, wird mit einem Rennmotorrad der Referenzklasse belohnt. Auch wenn es nicht das stärkste Superbike ist – dazu fehlen ihr rund 15 PS –, kann es zurzeit auf Pisten mit hohem Kurvenanteil kaum jemand mit ihr aufnehmen. Es ist das fantastische Zusammenspiel von agilem Fahrwerk, bissigen Bremsen und feurigem Motor, das sie so unglaublich schnell macht. Natürlich fällt sie auf langen Geraden gegenüber der 200-PS-Konkurrenz etwas ab, aber da sie meist mit Vorsprung aus der Kurve kommt, egalisiert sich das wieder. Dank ihrer elektronischer Steuerungen hat der Pilot die Bodenrakete auch gut unter Kontrolle.

Detailarbeit im V4

Womit wir auch schon beim interessantesten Teil des neuen Modelljahrs wären. Vollständig bezeichnet Aprilia sie offiziell als RSV4 Factory APRC ABS. Hört sich so an, als wären die gesamten technischen Features in die Modellbezeichnung eingeflossen und so ist es auch. Für die aktuelle Generation wurden nicht nur vier zusätzliche PS gefunden, sondern die Kraft über das gesamte Drehzahlband angehoben. Aprilia erklärt, die inneren Reibungs- und Pumpverluste des V4-Motors optimiert zu haben. Auch der Auspuff ist neu konstruiert.

Für eine noch bessere Straßenlage wurden Motor, Schwingendrehpunkt und Sitzhöhe fünf Millimeter tiefer positioniert – Massenzentralisierung ist momentan ein großes Thema bei vielen Herstellern. Erst auf den zweiten Blick fällt der überarbeitete Tank auf: neu geformt und mit 1,5 Liter mehr Volumen.

Ein ABS für Mach eins bei Glatteis

Man ist sehr stolz in Varese, nun endlich auch ein Anti-Blockier-System an Bord zu haben. Es handelt sich um die neueste Bosch-Generation und momentan lässt sich wohl kaum ein besseres finden. Dreistufig einstellbar (Rain/Sport/Track) und für Suizidgefährdete auch abschaltbar. Dieses ABS würde die Maschine wahrscheinlich auch aus Überschallgeschwindigkeit bei Glatteis sicher zum Stillstand bringen.

Elektrischer Reiter

Das APRC steht für „Aprilia Performance Ride Control“, gibt es schon länger und beinhaltet das – fast – perfekte elektronische Kontrollsystem. Das Steuergerät nimmt über zwei Raddrehzahlsensoren und zwei Gyrosensoren permanent Daten ab. Über die Drosselklappen- und Zündverstellung berechnet der Computer permanent die maximal einsetzbare Leistung und garantiert optimale Traktion. Außerdem umfasst das Paket eine Wheelie-Control, man kämpft also nie wieder mit einem unfreiwillig steigenden Vorderrad. Desweiteren gibt es eine Launch-Control, bei der die perfekte Drehzahl und Drosselklappenstellung vorgegeben wird und beim Start auf der Rennstrecke die bestmöglich Beschleunigung auf den Asphalt brennt.

Schließlich noch ein Quick-Shifter, bei dem die Gänge ohne Einsatz der Kupplung hoch geschaltet werden können – spart auf dem Rundkurs immerhin etliche Zehntelsekunden. In umgekehrter Richtung gibt es für das Runterschalten eine Anti-Hopping-Kupplung, die zuverlässig böse Schläge im Antriebsstrang verhindert. Die jeweiligen Systeme des APRC lassen sich auch noch einzeln einstellen, allein die Traktionskontrolle in acht Stufen – von „Sintflut auf holpriger Landstraße“ bis „Slick auf trockener Rennstrecke“.

Ein bisschen wie Playstation

Es ist ein bisschen wie mit einer Playstation – man kann solange an den Knöpfen der Aprilia schalten, bis das gewünschte Menü gefunden und zum Spielen bereit ist. Wer sich von den Einstellmöglichkeiten überfordert fühlt oder für die Optimisten, die meinen, es selber besser zu können: Die Traktionskontrolle lässt sich auch komplett abschalten.

Es sei aber wirklich dringend empfohlen, wenigstens den Track-Modus zu aktivieren, bevor gar keine Elektronik beim Ritt auf der Rasierklinge helfend einspringen kann. Selbst im Track-Modus kann es zu heftigen Adrenalinschüben kommen, denn die Abhebeerkennung des Hinterrads ist nun deaktiviert, das Heck kann beim Bremsen dann schon mal einen halben Meter über dem Asphalt schweben. Auch eindrucksvolle Wheelies sind dann möglich.

Weniger kostet auch weniger

Kommen wir zum größten Hindernis beim Kauf dieses außergewöhnlichen Sportmotorrads: dem Preis. 22.790 Euro bezahlt Otto-Normal-Biker nicht mal eben aus der Portokasse. Doch bevor er erwägt, den Bausparvertrag aufzulösen, sei ihm das Schwestermodell RSV4 R APRC ABS empfohlen. Schon für 17.390 Euro zu haben. Ihr fehlen im Vergleich zur Factory die edlen Öhlins-Federungen – die Gabel stammt von Showa und das Federbein von Sachs, beides funktioniert aber auch bestens. An ihren Achsen drehen sich keine Schmiede- sondern Gussräder, was etwas mehr Gewicht bei den rotierenden und ungefederten Massen auf die Waage bringt, und auch die Carbonteile wurden eingespart. Unterm Strich wiegt sie fünf Kilo mehr als die Factory, was aber eigentlich nur auf der Rennstrecke interessant ist.

Verbesserungswürdig ist nur der Name

Was wir uns von der Factory noch wünschen? Bitte eine kürzere Modellbezeichnung! Bevor man „Aprilia RSV4 Factory APRC ABS“ ausgesprochen hat, hat man auf ihr schon fast eine komplette Runde auf dem Nürburgring absolviert.


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