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Hoch hinaus

Royal Enfield Himalayan

Motorrad iga

Die Royal Enfield Himalayan ist die erste Reiseenduro der Marke und soll nicht nur in ihrer Heimat für Furore sorgen. Sie setzt mit ihrem luftgekühlten Einzylinder nicht auf hohe Leistung, sondern auf Zuverlässigkeit. Doch Royal Enfield hegt für die Zukunft hochfliegende Pläne

Royal Enfield hat eine bemerkenswerte Karriere. Zum einen baut die Firma seit 1901 Motorräder und ist damit der älteste ununterbrochen existierende Motorradhersteller der Welt. Zum anderen verlagerte sich der Firmensitz dieser ur-britischen Manufaktur nach Indien. 1955 bauten die Briten eine Motorradfabrik für das Einzylinder-Modell „Bullet“ in Madras (heutiger Name: Chennai), während in England weiter Zweizylinder vom Band rollten. Als 1967 die britische Fabrik geschlossen wurde, produzierte die indische Dependance munter weiter. Heute ist Royal Enfield ein rein indisches Unternehmen mit einer hochmodernen Fabrik, steht finanziell besser da denn je und hält noch einen Rekord: Die Bullet ist seit 1933 fast unverändert im Programm und damit das älteste Motorradmodell der Welt.

Doch Royal Enfield hat hochfliegende Pläne und ist sich durchaus bewusst, dass die Marke nicht ewig von der Treue der indischen Kunden und beim Export von seinem hipster-beliebten Oldtimer-Image zehren kann. Deshalb kaufte der indische Hersteller den für seine Motorrad-Rahmen berühmten Sport-Spezialist Harris Performance in England, der bereits an der Entstehung des Café Racers Royal Enfield Continental GT [1] beteiligt war, und gab ein neues Modell in Auftrag. Diesmal stand der indische Markt im Fokus der Entwicklung. Es sollte ein Reiseenduro entstehen, die solide und geländegängig, aber immer noch als Royal Enfield zu erkennen sein sollte.

Fürs Hochgebirge

Heraus kam die Himalayan. Sie wird von einem luftgekühlten Einzylinder mit 411 Kubikzentimeter und einer oben liegenden Nockenwelle angetrieben, intern als „LS 410“ bezeichnet. Der Doppelschleifenrahmen besteht aus Stahlrohren, eine konventionelle Telegabel führt das Vorderrad, während hinten immerhin ein Einzelfederbein am Hinterrad arbeitet. Wie ihr Name bereits andeutet, soll sie selbst im Hochgebirge noch hervorragend funktionieren – und was einen über die höchsten Pässe der Welt bringt, bewältigt auch jede andere Piste. Die Himalayan leistet 25 PS bei 6500/min und erreicht ein maximales Drehmoment von 32 Nm, das zwischen 4000 und 4500/min anliegt. Wer jetzt über die vermeintlich geringe Leistung lächelt, sollte sich klarmachen, dass dieses Motorrad in seiner Heimat wahrscheinlich vielen europäischen und japanischen Reiseenduros überlegen ist. Dort gibt es keine Schnellstraßen im uns geläufigen Sinn, dafür häufig genug üble Schlaglochpisten, die sich während der Monsumzeit in schlammige Rutschbahnen verwandeln.

Komplizierte Elektrik ist nicht nur teuer, sondern macht – vor allem im Übermaß eingesetzt – eine Maschine auch anfällig. In Indien kommt kein ADAC, wenn das Motorrad streikt, also muss es so robust wie möglich und gleichzeitig auch von Werkstätten ohne Computerausrüstung reparierbar sein. Gleichzeitig muss das Bike sowohl wendig für den chaotischen Stadtverkehr in Indien sein, als auch steinige Strecken klaglos überstehen.

Klein, aber zuverlässig

Die Voraussetzungen bringt die Himalayan alle mit sich. Der CEO von Royal Enfield, Siddhartha Lal, urteilt über die Tauglichkeit großer Reiseenduros für Indien: „Die großen Adventure-Tourer, die derzeit dieses Segment dominieren, verhalten sich in diesen Gebieten nicht optimal, da sie zu schwer, extrem kompliziert, einschüchternd und nicht wirklich für dieses Umfeld geschaffen sind. Die Himalayan hingegen ist mit ihrem neuen Design darauf ausgelegt. Sie ist ein einfaches Motorrad, das aber überallhin gelangt und das Adventure-Touring auf der ganzen Welt neu definieren wird.“

Lal reist seit schon seit zwanzig Jahren regelmäßig mit Royal Enfields ins Himalaya und die Entwicklung einer eigenen Reiseenduro war ihm ein persönliches Anliegen. Der Motor ist mit einem Bohrung-Hub-Verhältnis von 78 zu 86 Millimeter konzipiert. Der Langhuber bietet eine gleichmäßige Kraftentfaltung und bereits bei niedriger Drehzahl hohes Drehmoment, was besonders im Gelände von Vorteil ist. Die Federwege von 200 mm vorn und 180 mm hinten, dazu eine Bodenfreiheit von 220 Millimeter sind vielleicht nicht auf Sportenduro-Niveau, bewältigen aber problemlos Schotterpfade. Es geht nicht um die Zurschaustellung theoretischer Wettbewerbs-Ambitionen sondern um zuverlässiges Vorankommen. Dazu rollt die Himalayan auf Drahtspeichefelgen, vorne im geländefreundlichen 21-Zoll-Format, hinten belässt es Royal Enfield allerdings bei 17 Zoll. Sturzbügel schützen den Tank vor Dellen und ein Motorschutz den Einzylinder vor ernsthaften Schäden bei einem Sturz. Sogar einen Windschild bekam die Himalayan.

Eine einzelne 300 Millimeter große Bremsscheibe vorne und eine mit 200-Millimetern hinten sorgen für Verzögerung. Das Zweikanal-ABS war ein zwingendes Zugeständnis an eine EU-Zulassung. Manchmal ging bei der Himalayan der praktische Nutzen vor dem schicken Aussehen, deshalb wirkt sie nicht nur etwas pummelig: Mit 182 Kilogramm ist sie für eine Einzylinder-Enduro zwar kein Leichtgewicht, aber immer noch über einen Zentner leichter als die Zweizylinder-Enduros.

Viele Transportmöglichkeiten

Ein anderes Problem in Indien ist das eher dünne Tankstellennetz, zumindest in Hinsicht auf die teilweise enormen Entfernungen auf dem Subkontinent. Eine große Reichweite ist daher unerlässlich, was die Himalayan mit einem 14,5-Liter-Tank sicherstellt. Zwar liegen seitens des Herstellers keine Verbrauchsangaben vor, aber 350 Kilometer dürfte der Einzylinder locker schaffen.

Das Motorrad wurde von Beginn an mit Gepäckträger und Montagepunkten für das Mitführen von Koffern, Taschen und Kanistern konzipiert. Wer je die Beladungskünste der Inder gesehen hat, die mitsamt Großfamilie und Hausstand auf dem Motorrad unterwegs sind, weiß wie wichtig das ist. Dabei fällt die Sitzhöhe mit 800 Millimeter moderat aus, der Lenker ist hoch und die Fußrasten eher niedrig angeordnet, so dass sich eine entspannte Sitzposition ergibt. Auf der zweigeteilten Sitzbank, thront der Sozius höher als der Fahrer.

Im Cockpit findet sich eine interessante Ansammlung von Instrumenten: ein großer analoger Tacho mit integriertem Digital-Display für diverse Informationen wie z. B. Uhrzeit, Temperatur und Kilometerlaufleistung, daneben ein etwas kleinerer analogen Drehzahlmesser und in einem Kombiinstrument die Tankanzeige sowie ein digitaler Kompass. Letzterer kann im Himalaya von größter Wichtigkeit sein.

In Indien ein Big Bike

In Indien gelten Motorräder mit 500 Kubikzentimeter bereits als „Big Bikes“. Die Millionen von Motorrädern, die jährlich auf dem Subkontinent produziert werden, haben selten mehr als 125 Kubikzentimeter Hubraum – Royal Enfield ist hier mit rund einer halben Million Motorräder trotzdem der viertgrößte Hersteller. Doch wer auf einer Royal Enfield Bullet oder Classic versucht, das höchste Gebirge der Welt zu erklimmen, darf in Anbetracht der kurzen Federwege und des altbackenen Rahmens keine Sänfte und viel Arbeit am Lenker erwarten.

Die Himalayan soll nun für Royal Enfield die beliebte Kategorie der Reiseenduros eröffnen, und wenn es nach dem Willen von CEO Lal geht, nicht nur in Asien und Südamerika, sondern auch in Europa. Zwar wird sie wohl in Deutschland gegen die PS-starke Konkurrenz keinen Stich holen und mit ihrer eher schlichten Optik keine Schönheitskonkurrenz gewinnen, aber ihr günstiger Preis von nur 4599 Euro könnte durchaus Interessenten locken.

Weltmarktführer in der Mittelklasse

Die Himalayan soll erst der Anfang sein. Siddartha Lal erklärt ganz unverhohlen: „Royal Enfield ist prozentual gesehen der profitabelste Motorradhersteller der Welt und wir denken weiträumig und global: Wir wollen der Weltmarktführer in der Mittelklasse werden.“ Größenwahn? Nein, Royal Enfield steht tatsächlich finanziell sehr gesund da und hat in England das Royal Enfield Technology Center gegründet.

Für die Umsetzung ihres Plans haben die Inder einige prominente Namen eingekauft: Pierre Terblanche war viele Jahre Chef-Designer bei Ducati, Simon Warburton war lange als Produkt-Manager für Triumph tätig und auch Mark Wells und Ian Wride sind in Motorrad-Designer-Kreisen wohl bekannt, unter anderem haben sie die bildschöne Triumph Daytona 675 und die Royal Enfield Continental GT entworfen. Das Team entwickelt ein Naked Bike im Retro-Stil mit einem luftgekühlten 750er-Zweizylinder, das bereits Ende des Jahres in Chennai in Produktion gehen soll. Auf dem riesigen indischen Markt mit seinen 1,2 Milliarden Einwohnern, aber auch im restlichen Asien könnte sie ein echter Erfolg werden. Die Hersteller in Japan und Europa sollten die indische Konkurrenz zukünftig nicht unterschätzen.


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