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Ein zweites Getriebe, zwei zusätzliche Kupplungen, viel Elektronik

So funktioniert der Allradantrieb des Ferrari FF

Technik cgl

Der Ferrari FF treibt erstmals in der Firmengeschichte (zeit­weise) alle vier Räder an. Da Ferraris Ingenieure die Nachteile klassischer Allrad­antriebe nicht hinnehmen wollten, konstruierten sie eine wilde Lösung.

Stuttgart, 22. Februar 2012 – Meistens ist es eine gute Idee, seine Kunden bei einem Modell-Update zu fragen, was sie wollen, was man besser machen könnte. Eine sehr schlechte Idee ist es jedoch meistens, Kunden zu fragen, was für ein neues Produkt sie gerne hätten, weil sich die meisten Menschen dann nur Dinge wünschen, die sie schon kennen. "Die Leute wissen gar nicht, was sie wollen, bis wir es ihnen zeigen", sagte Steve Jobs zu diesem Thema. Bei der Planung des FF [1] hat sich Ferrari dazu hinreißen lassen, die Kunden zu fragen, was sie denn gerne für einen neuen Wagen hätten. Die Befragten wünschten sich einen stark motorisierten Viersitzer mit ausreichend Kofferraumvolumen, der bei Nässe einfach zu fahren ist.

Im Prinzip hätte Ferrari also ein paar hundert Audi RS4 Avants [2] kaufen, die rot anmalen und mit Ferrari-Aufklebern für den doppelten Preis verkaufen können. Das wollten sie dann doch nicht, also hörten sie nur noch mit einem Ohr auf die merkwürdigen Kundenwünsche und gingen einen völlig neuen, sehr komplizierten Weg. Denn Eines wollte man in Maranello nicht aufgeben: gute Fahrbarkeit. Die kommt vor allem aus perfekter Balance, die Ferrari, weil sie mit Platz nicht geizen müssen, gern so herstellt: Front-Mittelmotor hinter der Vorderachse, Hinterradantrieb, Getriebe direkt am Hinterachsdifferenzial (Transaxle-Layout). Die zusätzliche Traktion bei Nässe sollten zeitweise angetriebene Vorderräder herstellen.

Vier Räder antreiben – aber wie?

Ein klassisches mechanisches Allradsystem in einem echten Geländefahrzeug ist normalerweise so aufgebaut, dass Drehmoment vom Motor über das Getriebe an ein Mitteldifferenzial geschickt wird, das meistens als zweites Getriebe mit niedriger Geländeuntersetzung ausgelegt ist. Von dort führen je eine Kardanwelle zum vorderen und hinteren Achsdifferenzial. Diese Bauart war Ferrari natürlich viel zu schwer, außerdem hätte es Platz im Innenraum gekostet und den Schwerpunkt des Fahrzeugs angehoben. Einen Allradantrieb in einem Straßenfahrzeug kann man einfacher haben: längs eingebauter Frontmotor vor der Vorderachse, in ein Gehäuse integriertes Getriebe mit Front- und Mitteldifferenzial, Kardanwelle zur Hinterachse. Audi und Subaru sind die bekannten Vertreter dieser Bauweise. Auch das war Ferrari jedoch erstens zu schwer und zweitens zu kopflastig [3]. Sie wollten zudem ja nur eine Traktionshilfe, das Fahrzeug sollte die meiste Zeit einen normalen, Handling-optimierten Hinterradantrieb haben. Schließlich und letztlich hätte man gerade für so eine Anwendung die zweite Achse elektromotorisch antreiben können, mit Strom aus einem vergrößerten Generator, wie es VW mit dem Cross Coupé [4] vorhat. Dazu fehlte Ferrari vielleicht die Hochvolttechnik oder die Lust, denn sie gingen einen ganz eigenen, mechanischen Weg voll hochkomplexer Regeltechnik.

Die schwerpunktgünstige Position des V12 hinter der Vorderachse nutzten die Ingenieure nämlich dazu, um vorne, ans andere Ende der Kurbelwelle ein zweites kleines Getriebe und zwei Kupplungen zu bauen, um somit die Vorderachse anzutreiben. Laut Ferrari wiegt das Gesamtsystem unter 50 kg und damit kaum mehr als die Hälfte konventioneller Allradantriebe. Es verkraftet allerdings auch nur 20 Prozent des Drehmoments, das die Hinterachse auf die Straße bringt – für Ferraris Auslegung als Traktionshilfe ausreichend. Ebenfalls zu bedenken: Wir sprechen hier von 660 PS Nennleistung.

Das vordere kleine Getriebe hat einen Rückwärtsgang und zwei Vorwärtsgänge. Der erste davon ist rund 6 Prozent länger ausgelegt als der zweite Gang des Hauptgetriebes, der zweite rund 6 Prozent länger als dessen vierter Gang. Ab dem fünften Gang fährt der FF ausschließlich mit Hinterachsantrieb. In den unteren Gängen verteilen zwei Mehrscheiben-Ölbadkupplungen Drehmoment auf die Vorderräder. Diese Kupplungen erlauben ein mit der Hinterachse kombiniertes Torque Vectoring und übernehmen elektronisch geregelt gleichzeitig die Funktion des Vorderachsdifferenzials. Die Entscheidungsgrundlage der Drehmomentverteileralgorithmen bilden die Daten der Onboard-Sensorik: ESP-Gyrometer, Beschleunigungssensoren, Raddrehzahlmesser, Motor-Parameter.

Anhand der Auslegung wird deutlich, dass die Kupplungen während des Allradbetriebs praktisch ständig am Schleifen sein müssen, um das Drehmoment zu verwalten. Das ist für Ferrari kein großes Problem, denn der Vorderachsantrieb schaltet sich erst dann zu, wenn der Schlupf hinten zu groß wird, läuft also nur zu einem sehr geringen Prozentsatz der Fahrzeit.

Vier Räder antreiben – aber warum?

Ferrari erreicht mit dieser Lösung seine widersprüchlichen Ziele: Der FF bleibt ein GT-Wagen, dessen sich die Firma am Handling-Kurs nicht schämen muss. Ferraris CEO Amedeo Felisa verspricht, dass der FF auf einem trockenen Kurs vergleichbare Rundenzeiten wie ein Ferrari 599 einfährt. Trotzdem haben die Gimmick-Kunden ihren Allradantrieb bekommen. Realistisch betrachtet hätte es auch eine wesentlich einfachere Lösung getan, oder sogar einfach nur ein Aufkleber, auf dem "Allrad" steht. Doch wie bei den wilden Lancias aus der Glanzzeit dieser Firma werden wir in zwei Dutzend Jahren vor dem FF stehen und uns immer noch wie heute über eine technisch wilde, interessante, italienische Lösung freuen, die man gerade deswegen lieben muss, weil sie so überflüssig ist. Es ist ein kleines Stück Kunst für Maschinenbauer.


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[1] https://www.heise.de/autos/artikel/Neuer-Ferrari-Four-mit-Allradantrieb-debuetiert-in-Genf-1174996.html
[2] https://www.heise.de/autos/artikel/Audi-RS4-Avant-offiziell-enthuellt-1434621.html
[3] https://www.heise.de/autos/artikel/Die-Methode-Audi-1415759.html
[4] https://www.heise.de/autos/artikel/VW-Cross-Coupe-Mischung-aus-Coupe-und-SUV-1387464.html