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Die neue S 1000 RR fährt großartig

Tage der Tentakel

Motorrad Clemens Gleich

Von den Bildern und Daten her erschien der Naked-Bike Ableger des BMW-Supersportlers eher nüchtern, kaufmännisch geplant, langweilig. Und sehr hässlich. Doch beim Fahren überzeugt sie vollkommen, denn die neue S 1000 RR fährt großartig

Palma, 29. November 2013 – "Und, lassen die Alpträume schon nach, jetzt, wo du davor stehst?", fragt BMW. Das mit den Tentakelgesichtern [1] tragen sie mir nach. Die Antwort ist einfach: Nein. Die Maschine wird auch beim davor stehen oder anfassen nicht plötzlich magisch schöner. Man gewöhnt sich auch nicht daran, zumindest nicht in zwei Tagen. Das Wichtigste jedoch: Man muss das gar nicht. Ich fahre selber ein Motorrad, das sehr hässlich, aber sehr gut ist. Und diese Beschreibung passt wider Erwarten auch auf die neue, nackte BMW.

Überrrascht hat Viele im Vorfeld der Preis. "Wir sind uns da nicht sicher, ob wir nicht vielleicht schon zu niedrig sind", sagt Stephan Schaller, Chef von BMWs Motorradsparte. "Aber wir wollten dahin gehen, wo die Konkurrenz ist." Eine ganz konkrete Konkurrenz ist die zwei Tage vorher vorgestellte Kawasaki Z 1000 für rund 12.500 Euro inklusive Nebenkosten. Die BMW kostet 12.800. Allerdings wiegt die BMW 20 kg weniger, hat 20 PS mehr, mag (noch) ungeschlachter gestaltet sein, hat aber den wichtigen BMW-Propeller, für den die Kunden sonst viel Aufpreis zahlen. Bei den Verkaufszahlen wird die BMW die Kawa schlachten. Und bei der Performance tut sie das auch.

Eis und Rain

Die Testfahrt beginnt im eisigen Regen bei einstelligen Temperaturen. Freude: Es sind Heizgriffe dran, die es mittlerweile sogar für die RR gibt. Zum Glück ist das alberne "wir dürfen keine Heizgriffe einbauen, weil das ist nicht sportlich" der ersten Generation RR vorbei und hier nicht praktiziert. Die S 1000 RR hatte mechanisch betätigte Züge für die Drosselklappen, an denen ein Servo in einem bestimmten Bereich nachstellen konnte. Es gab also die meisten Vorteile eines E-Gas plus eine mechanische Rückfallebene. Die R jetzt hat ein reines E-Gas. Der ergonomisch wichtige Widerstand am Drehgriff ist optimal dosiert. Das von BMW zum Losfahren eingestellte Setting "Rain" zieht die Bewegung der Drosselklappen etwas nach für ein weicheres Ansprechverhalten. Die Straßen sind teilweise so glatt, dass ich beim Überholen nicht an Peugeot Partners vorbeikomme, weil das Hinterrad durchdreht, abgeregelt wird und wieder durchdreht.

Trotzdem gefiel mir persönlich selbst hier der Rain-Modus nicht. Diese Modi sind meiner Meinung nach generell überall unnütz. Die BMW-Eigenheit des E-Gas ist bei Rain deutlich erhöht: Es gibt künstlich begrenzt viel zu wenig Anfahrdrehmoment. Auf dem Standardsetting "Road" ist es durch das bessere Ansprechverhalten zudem viel einfacher, das Gas zu dosieren. Es regelt nicht mehr hin und her durch Überschießen der Feedbackschleife von Fahrer und Elektronik, sondern man kann das Drehmoment passgenau an den Punkt stellen, an dem die Lampe der Traktionskontrolle blinkt, aber das Rad noch nicht auskeilt und eingefangen werden muss. Die E-Gas-Mapping-Kurve für "Road", "Dynamic" und "Dynamic Pro" ist übrigens dieselbe, denn: "Es gibt nur ein optimales Ansprechverhalten", wie es der BMW-Entwickler ausdrückte. Meine Rede.

Unerwartet: BMW baut die Kant'n

Der nächste sehr auffällige Punkt ist die Ergonomie. Man sitzt sofort sehr gut, selbst im Eisregen auf Autobahnetappen. Das wäre es bei so einem Wetter auch schon zu den Fahreindrücken gewesen, denn auf dem Pass, den wir fahren wollten, lag 10 cm hoch Schnee. Zusammen mit den Schmierseifestraßen darf davon ausgegangen werden, dass die R dort rückwärts den Berg wieder runtergerutscht wäre. Pause. "Was machen die Tentakelalpträume?", fragt BMW, und: "Fährst du nochmal raus?" Selbstverfreilich fahre ich nochmal raus. Ich habe doch Heizgriffe.

Einige Fahrer gingen an dieser Stelle Tee trinken, Facebooken oder heiß duschen – kurz: kneifen. Ihnen möchte ich an dieser Stelle von Herzen ein Nelson-Ha-Ha! schicken, denn auf dem nachmittäglichen Ausflug fanden die Ausgerückten eine Straße mit Kurven ohne Wasser. Die zeigte, was man sonst im Schmierregen nicht herausfindet: Dieses Motorrad ist brutal schnell. Die geänderte Motorabstimmung auf unten-mitte in Verbindung mit einer kürzeren Übersetzung entlocken dem eigentlich extremen Kurzhuber beeindruckende Hinterrad-Drehmomente auch in niedrigeren Drehzahlen. Tiefere Schräglagen passen wie ein Sessel, in den man sich mit Anlauf wirft. Bei alldem knurrt der Motor laut und heiser, geht knackig ans Gas, brabbelt im Schiebebetrieb. Es ist vollkommen unerwartet, dass ausgerechnet BMW das wilde, kantige Motorrad baut, und KTM mit der 1290 Super Duke R [2] das sanfte, teurere.

Der Preis der Leistung

Erkauft wird der neue Schub von unten durch ein schmaleres nutzbares Band, häufigere Schaltvorgänge und erhöhten Verbrauch. Wir fuhren die Kurvenstrecke so lange hin und her, bis wir aus Treibstoffgründen die Rückfahrt antreten mussten. Bei unter 150 km seit Volltanken des 17,5-Liter-Alutanks leuchtete die Reservelampe auf. Beim Abstellen nach 163 km standen 20 km auf dem Restreichweitenschätzeisen. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens hat BMW das Niveau des Schätzeisens im Vergleich zur recht genauen RR um über 20 km erhöht, keine Ahnung, warum. Zweitens verbrauchen vor allem Motorräder in sehr kalter Luft signifikant mehr Benzin: Die Luft ist dichter, es wird mehr eingespritzt, der von Eiswind gekühlte Motor nebst seinen Flüssigkeiten läuft messbar zäher als im Sommer, hat also erhöhte interne Verluste. Da werden wir gelegentlich im Frühjahr nachmessen. Die Entwicklung sagt: 6 bis 7 Liter auf 100 km sollten dann herauskommen, die Tanklampe bei um die 200 km aufleuchten, wie es bei Landstraßenmotorrädern üblich ist.

Insgesamt sollten sich Interessenten fragen: Wie wünsche ich mir eine nackte Landstraßenvariante der S 1000 RR? In etwa wie dieser Wunsch ist die R, zumindest wie mein Wunsch. Konkret fällt mir nur ein echter Störpunkt in der Funktion ein: Für gelegentliche Rennstreckeneinsätze oder Autobahnetappen würde ich den Begrenzer bei 250 km/h entfernt haben wollen. Hier hilft jedoch schlicht ein anderes Ritzel oder Kettenblatt, um die Gesamtübersetzung zu ändern. ABS und TK kann man bei Spielbedarf sowieso komplett abschalten. Probefahren: unbedingt. Das schauderhafte Gesicht sieht man ja beim Fahren zum Glück nicht.


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[1] https://www.heise.de/autos/artikel/Tentakelmode-aus-Mailand-2044104.html
[2] https://www.heise.de/autos/artikel/Das-Biest-1975847.html