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Nachts in der Personenbeförderung mit einer E-Klasse

Wir konfigurieren ein Taxi

Klartext Clemens Gleich

Dem Vielfahrer wird mit jedem gefahrenen Megameter wichtiger, dass nichts nervt, und hinter dieser Priorität stehen alle anderen wie "Lackfarbe" oder "Prollfaktor" hinten an. Der König der Kilometerfresser ist die E-Klasse. Kleine Nervenprobe.

Vielfahrer haben andere oberste Prioritäten als Menschen mäßiger Fahrleistung. Sie wandern mit jedem gefahrenen Megameter graduell weg von "muss Laune machen" in Richtung "darf nicht nerven". Am besten ist natürlich beides, was wahrscheinlich der Grund ist für die Beliebtheit der 3er-Reihe von BMW oder eines Toyota GT86. Die Evolution des Vielfahrerfahrzeugbaus hat jedoch eine unangefochtene Spitze der Nahrungskette: die Mercedes E-Klasse, oder kürzer: das Taxi [1]. Aufgrund der unfassbar schlechten Öffis in Stuttgart fahre ich recht viel Taxi, und das soll idealerweise so aussehen: Ein deutschtürkisches Selbstfahrsystem am Lenkrad wiegt mich mit Ansichten über Politik, Streckenwahl, Fahrzeugbau, Kundendienstpreise und einer sanft dieselnden E-Klasse in den Schlaf. Herrlich. Selbstverständlich schläfert auch ein VW Passat schnell ein, nur folgt dann eben ein böses Erwachen bei der Rechnung. Was, so viel? Für dieses Geld kriege ich eine selbstfahrende E-Klasse! Unverschämtheit.

Der Taxibetrieb kann jedem E-Klasse-Kunden ein Vorbild sein, denn Taxiunternehmer konfigurieren ihr Fahrzeug üblicherweise so, dass es nicht nervt. Das ist bei der E-Klasse einerseits recht einfach, weil der Unterbau so langjährig bewährt ist, dass man ihn selbst als Lancia [2] noch sofort in seiner ganzen Beruhigungsdosis erkennt. Das ist andererseits wiederum gar nicht so einfach, weil Mercedes ein Labyrinth an Nervenfallen in ihrem Konfigurator ausgelegt hat. Aber versuchen wir es einfach: Konfigurieren wir ein Taxi!

Konfiguration: V6, fertig.

Der erste Schritt ist der einfachste. Vielfahrer tendieren immer noch zum Diesel, und Daimler hat einen exzellenten V6-Ölofen im Angebot (E 300 Bluetec). Der ist sparsam, durchzugsstark, angenehm im Klang und kommt serienmäßig mit einem unauffälligen Siebengang-Automatikgetriebe. Letzte Nacht habe ich Menschen in einem "E 300 Bluetec Hybrid [3]" kutschiert, das ist Daimlers Variante eines elektrisch unterstützten Dieselmotors. Der Elektromotor/Generator sitzt dabei zwischen dem (Achtung!) Vierzylindermotor und dem Getriebe, sodass er (anders als bei Citroen) bei jeder Fahrgeschwindigkeit verwendet werden kann. Normalerweise lässt sich die Frage nach "Hybrid?" sehr schnell verneinen, weil die Kosten dieser Antriebe niemals wieder hereinkommen.

Der Mehrpreis gegenüber dem E 250 mit Automatik liegt bei 3570 Euro. Das könnte sich bereits nach 250.000 km rechnen, denn Erfahrungen von Taxiunternehmen mit anderen Hybridantrieben zeigen, dass man seine Fahrer auf diese Systeme anlernen kann und dann tatsächlich Sprit und Bremsen spart. Der BlueHybrid hat deshalb ein Bremspedal, das sich erstmal anfühlt, als läge ein Gummispielball für Hunde darunter. Das ist die elektrische Bremse. Sie nervt ein bisschen, vor allem, weil ihre Wirkung in Stufen springt, wenn die Automatik schaltet. Erst nach dem Gummiball kommt fühlbar die mechanische Bremsanlage, der Übergang ist so naja. Sanfte, fahrgastgerechte Zielbremsungen gehen ohne besser. Deshalb empfehle ich trotz Sparpotenzial: V6 kaufen. Der kostet 476 Euro weniger als der R4-Hybrid, hat das für Automatikeffizienz wichtige Start-Stopp-System und erfreut den Fahrer, statt ihn zu nerven.

"Hände an den Lenker, Kohlenstoffbeutel!"

Schnellstraße zum Flughafen. Das im vagotonen Spargang einhändig gehaltene Lenkrad sträubt sich gegen Eingaben, hat seinen eigenen Willen. Lässt man ihm den, nervt es einen mit Piepen: "Hände an den Lenker! Ich will dich weiter quälen, Kohlenstoffbeutel." Das ist der Spurhalte-Assistent. Den gibt es im "Spurpaket" (892,50 €) mit den Totwinkelsensoren, die hektisch piepend Fahrgäste aufwecken, wenn Pflanzen am Wegesrand wachsen. Hilfreiche Beiträge der Assistenten konnte ich nicht feststellen. Dieses Paket also vermeiden. Natürlich liegt mir die Sicherheit von Fahrgästen am Herzen, aber ich glaube wirklich, dass ein ständig derart genervter Fahrer viel mehr Unsicherheit erzeugt als die mangelhafte Funktion der Assistenten jemals wieder reinholt.

Leider serienmäßig nervt Daimlers "Pre-Safe"-System mit immer wieder falsch positiven Piepsmeldungen. Das hatte ich bei Volvos "City Safety" genauso, vielleicht hat es was mit Stuttgarts zugeparkten Gefällestraßen zu tun. Daimler hat (anders als Volvo) eigentlich ausreichend Gelegenheit, die zu testen. Die falsch positiven Piepser lassen mich nur auf eine falsch positive Vollbremsung warten. Was sage ich der Fuhrparkdame, wenn mir bei Abgabe ein Micra [4] im Kofferraum steckt? Eine Fehlfunktion glaubt einem doch keiner. Und wo wir beim Piepsen sind: Den nervtötenden Gurtbingbongton deaktivieren Taxifahrer gleich nach dem Kauf, denn erstens unterliegen sie nicht der Anschnallpflicht und zweitens wissen sie als Vielfahrer sehr genau, wann sie sich am besten anschnallen. Das muss ihnen nicht eine dumme Eieruhr sagen, und wenn sie noch so wichtig für Euro-NCAP-Sternchen im Hausaufgabenbuch ist.

Die aufblasbaren Sitze lohnen sich auch nicht. Bei wirklich schneller Fahrt (das kann eine E-Klasse ja) sind die Reaktionszeiten (vor allem in Wechselkurven) zu langsam, bei langsamer Fahrt irritieren die Luftsäcke Fahrgäste nur. Man fühlt sich, als sitze man auf dem Schoß einer fetten Person, die einen anfummelt, sobald man am Lenkrad dreht. Eine mitgenommene Dame fühlte sich sehr unsittlich berührt, vor allem, weil schon nach dem Anschnallen der elektrische Gurtfestzieher ungefragt ihre Brüste gedrückt hatte. So jemand gibt kein Trinkgeld mehr.

Wider die Featureitis

An Elektronik kann man sich die Memory-Funktion für die Sitze überlegen für schnellen Fahrerwechsel (1487,50 €) oder das praktische Keyless-System (1320,30 €). Ansonsten: Ledersitze halten bei fachgerechter Pflege den Innenraum sehr lange geruchsneutral, das Automatikgetriebe lohnt eh, Tempomat ist eh Serie, Konfiguration fertig. Ich bin übrigens nicht gegen Elektronik, sondern gegen Featureitis. Die Parkkamera der E-Klasse ist zum Beispiel das schönste Beispiel von Sensorintegration in sehr langer Zeit: Der Bildschirm zeigt eine Draufsicht aus simuliertem 3D, gestitched aus den Außenkameras. Es sieht aus wie die Grafik in den ersten GTA [5]-Teilen und steuert sich genauso leicht. Ein großes Auto einfacher zentimetergenau Einparken geht nicht. Tumorartiges Wachstum der Liste zweifelhafter Features in der Aufpreisliste dagegen braucht kein Mensch, und dass die Systeme aus Angst dennoch gern gekauft werden, macht es nicht besser.

Deshalb wünsche ich mir ganz persönlich eine E-Klasse, Taxi-Edition. In der Aufpreisliste steht nichts, was nervös piept. Stattdessen gibt es mehr Systeme für den Fahrer, Systeme, die zeigen, was in der E-Klasse steckt, diesem vielleicht deutschesten aller Autos: Nicht attraktiv, aber sehr gut. Der stille Arbeiter, der weniger labert und mehr schafft. Er hat Tugenden, die man nicht auf einzelne Schlagworte einkochen kann: Standardantrieb für gutes Fahrverhalten, einen kleinen Wendekreis und damit man die ungestreuten, steilen Nebenstraßen Stuttgarts winters nicht immer rückwärts hochfahren muss. Trotz Fußgängerschutz gute Rundumsicht durch die Scheiben. Verblüffend intuitiv präzise steuerbar. Kofferraum mit ausziehbarem Gepäcksack, damit kleinere Einkäufe nicht durch den riesigen Frachtraum bollern. Sitzbankentriegelung von hinten im Kofferraum, damit man beim Beladen flink von dort umlegen kann. Mechanische Schlösser an Türen und Kofferraum für den Zeitpunkt, an dem die Elektronik versagt. Und so weiter. Ich würde nie auf die Idee kommen, eine E-Klasse zum Spaß zu fahren, aber wenn ich mal ein Auto für eine Weltumrundung brauche, kaufe ich sofort ein altes Modell davon.

Nur: Könnte man so einen schlichten Vollholzschrank von Auto heute noch ohne das Geschäftsmodell Schlagwortliste vermarkten? Ich glaube schon, und zwar antizeitgeistig an die bestehende Kernzielgruppe: konservative Schnellgenervte, die viel fahren. Ich schlage folgenden Claim vor: "Edition Taxi: Nichts nervt."


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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/autos/artikel/Bilder-aus-der-Geschichte-der-Taxis-1623123.html
[2] https://www.heise.de/autos/artikel/Klartext-Anlage-und-Umwelt-1892184.html
[3] https://www.heise.de/autos/artikel/Segeltour-im-Mercedes-E-300-Bluetec-Hybrid-1499161.html
[4] https://www.heise.de/autos/artikel/Formveraendert-1876360.html
[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Grand_Theft_Auto#Grand_Theft_Auto_.281997.29_und_GTA_2_.281999.29