Ajax, Web 2.0 und Plattenbauten

Ist Web 2.0 eine Technologie? So wie Ajax oder Mashups? Oder einfach alles, was cool ist? Oder sind es reiche grafische Weboberflächen? Oder ist es eine gesellschaftliche oder gar zivilisatorische Weiterentwicklung?

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 2 Kommentare lesen
Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Bernd Oestereich

Der Name Web 2.0 wird populärer und von immer neuen Gruppen sowie Fraktionen beansprucht und vereinnahmt. Wie gut, dass Web 2.0 ein Schlagwort ist, das alles und nichts bedeutet. So ähnlich wie SOA.

Zunächst war Web 2.0 ein Schlagwort dafür, auszudrücken, dass es viele verschiedene neue Ansätze gibt, die dem Internet eine neue Dimension verleihen. Dabei standen weniger konkrete Technologien im Vordergrund, sondern wie sich die Alltagsbedeutung, die Art des Umganges und der Benutzung, die Art der Kommunikation und Kollaboration der Menschen im und mit dem Internet ändern.

Dazu bedurfte es teilweise gar keiner neuen Technologien oder nur minimaler technischer Erweiterungen. Gerade die einfachen Dinge haben manchmal große Wirkung. So sind Wikis nicht so neu und der Weg vom MP3-Download zum Podcast softwaretechnisch nicht weit. Oftmals wurden bestehende Technologien durch sehr viel schnellere Internetzugänge für jedermann jetzt erst richtig nutzbar. Darum werden jetzt aus HTML-Konsumenten auf einmal Blog- und Internetradio-Produzenten. Selbst mit Playlisten anderer Benutzer in Musik-Download-Portalen werden aus Konsumenten kulturelle Missionare und mitteilungsbedürftige Weltverbesserer.

So wie anfangs jeder auf seine private Website ein Foto von seinem Haustier/Motorrad/Urlaub stehen hatte oder die Welt lyrisch beglückt hat, kann jetzt jeder weitere Formate und Kanäle der Selbstdarstellung nutzen. Dabei hat nicht jeder das Glück, über ein iX-Blog zu verfügen.

So banal es im Einzelfall sein mag, es verändert die Welt. Die gesellschaftliche Bedeutung ist erheblich. Die Eintrittshürde ist niedrig, jeder kann mitmachen. Man muss kein Buch mehr schreiben, keinen Verlag gründen, keinen Fernseh- oder Rundfunksender betreiben, um mit seinen Botschaften die Welt zu erreichen. Die Vielfalt steigt. Das inhaltliche Niveau der meisten bislang dominierenden Medien, vor allem der Fernsehsender, hatte sich sowieso schon so weit Richtung Null bewegt, sodass das Web 2.0 wieder eine qualitative Verbesserung darstellt.

Da trifft man Borreliose-Kranke, die in ihrem privaten Web-Forum mehr Kompetenz zusammenbringen als der eigene Arzt.

In letzter Zeit höre ich das Schlagwort Web 2.0 aber immer öfter in Verbindung mit konkreten Technologien. So werden Ajax (Asynchronous Javascript and XML) und reiche grafische Weboberflächen mit Web 2.0 etikettiert. Dabei ist das Paradebeispiel Googlemaps das Produkt eines Weltmarktführers. Ein cooles Produkt eines kommerziellen und beherrschenden Unternehmens. Also doch eher wieder Web 1.2 – nur eben mit irrer Begeisterungsqualität?

Oder ist Web 2.0 einfach alles, was cool ist und sich von den 0815-HTML-Websites abhebt? Dann wäre Flash vor vielen Jahren wohl auch Web 2.0 gewesen, wenn es das Schlagwort damals schon gegeben hätte. Dann setzen wir "2.0" mit "cool" gleich.

Wenn es jetzt möglich ist, Googlemaps mit einem Wetterdienst und einem Shop so zu verbinden, das mir beim nächsten Tornado gleich neue Spanplatten zum Fensterabdichten automatisch bestellt werden, wie ich es gerade gelesen habe, dann klingt das bemerkenswert. Zumindest, wenn dafür die bestehenden kombinierten Services nicht geändert werden mussten.

Aber mal ehrlich, ist dieser Anwendungsfall wirklich praxisrelevant? Werden wir jetzt lauter Anwendungen dieser Art nutzen? Sie zu konstruieren sind nette Fingerübungen und vielleicht eindrucksvolle Demonstrationen von Möglichkeiten. Was aber ist das Geschäftsmodell dahinter? Aber vielleicht täusche ich mich ja – wie bei den Klingeltönen. Früher konnte man beim Wählscheibentelefon die Lautstärke und Klangfarbe verändern, heute installiert man einen Sound. Der Anwendungsfall ist nicht viel anders. Aber das Geschäftsmodell, also die Möglichkeit, sich dumm und dusselig zu verdienen, ist neu.

Manchmal fühle ich mich 30 Jahre zurückversetzt. Als ich 1979 meinen ersten Computer hatte (Platine, UHF-Modulator etc.), war meine Frage: Und was kann ich jetzt damit machen? Natürlich habe ich sofort ein Primzahlenberechungsprogramm geschrieben. Wenn ich mehr Zeit hätte und das Wetter nicht so anhaltend gut wäre (zumindest hier in Hamburg), würde ich mir jetzt auch irgendwelche Ajax-Anwendungen ausdenken.

Ajax ist einfach nur eine Technologie, Mashups ebenso. Genauso wie man Steine und Glas zum Häuserbau braucht. Man kann daraus coole Objekte bauen oder Plattenbauten. Web 2.0 ist was anderes. ()