Die Demokratisierung des Weihnachtsmanns

Aus Fantasie und Fiktion haben schon viele Innovationen ihren Weg in die Realität gefunden. Die hochtechnisierte Welt wiederum wirkt wundersam auf vermeintlich zeitlose Mythen zurück.

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Von
  • Peter Glaser

Nichts und Niemand bleibt vor Neuerungen verschont, auch nicht die wunderbaren Wesen, die zum Fest die Gaben ranschaffen. Erst wurden die dezemberlichen Gebegebräuche dem Nikolaus zugeschrieben. Er geht auf den heiligen Nikolaus von Myra zurück, einen mildtätigen Bischof aus dem 4. Jahrhundert. Da Martin Luther ein Gegner der Heiligenverehrung war, wurde mit der Reformation ein Gegengebewesen aufgestellt, das Christkind. Nach einigen Transformationen erreichte es sein heutiges Erscheinungsbild als engelsgleiches Kindlein, während im nördlicheren Europa der aus dem Nikolaus und seinem Knecht Ruprecht fusionierte Weihnachtsmann die Zügel in die Hand nahm.

Zu einem gewissen Weltherrschaftsstreben mag dem Weihnachtsmann das Image verholfen haben, das ihm die Coca-Cola-Marketingabteilung seit Anfang der Dreissigerjahre verlieh – ein rotwangig dauerfroher Dicker mit weissem Rauschebart, der dem zierlichen Christkind diametral gegenübersteht – auch was den Geschenketransport angeht: Das Christkind, als eine liebliche Vorversion der Lieferdrohne, bringt die Gaben individuell auf geheimnisvolle Weise. Der Weihnachtsmann mit geschenkebeladener Kutsche geht effizienter an das Heranschaffen der Herrlichkeiten.

Die erste industrielle Revolution ging spurlos an den Bescherern vorbei. Von Dampfengeln oder kohlegestützten Kutschen ist nichts bekannt. Mit dem technischen Zeitalter und dem einsetzenden Geschwindigkeitsrausch in den Zwanzigerjahren jedoch wurde auch die mythische Logistik des Weihnachtsgeschenkezustellens von den Herausforderungen erfaßt, welche die Erfindung der Stromlinienform und die neue Raketentechnologie damals nach sich zogen. So versuchte sich einer der Pioniere der Raketentechnik, der Südtiroler Max Valier, an Beschleunigungsmöglichkeiten für den Schlitten. Valier – der alles, was fahrbar war, mit einem Raketenantrieb versah – war Mitglied des 1927 gegründeten "Vereins für Raumschiffahrt" in Berlin, dem unter anderem ein junger Mann namens Wernher von Braun angehörte.

1929 begann Valier mit dem Bau raketenbetriebener Kufenfahrzeuge. Am 3. Februar fanden anläßlich eines Wintersportfestes des Bayerischen Automobilclubs auf dem bei Garmisch-Partenkirchen gelegenen Eibsee mehrere bemannte Fahrten des Valier RAK BOB 2 statt. Bei einer weiteren Fahrt auf dem Starnberger See am 9. Februar erreichte der umgebaute Schlitten 378 Km/h – die unbemannte Fahrt endete allerdings an einem Bootssteg, der Raketenschlitten wurde zerstört. Betrachtet man einmal ernsthaft die ungeheuerliche Anforderung, der sich Weihnachtsmann respektive Christkind jedes Jahr gegenübersehen, wird schnell klar, dass sie ohne technologische Hilfestellung nicht zu bewältigen wäre. Physiker weisen auf die geschätzte Anzahl braver Kinder und die bringgeschwindigkeitsbedingte Luftreibungshitze hin, welche die Lieferanten schlicht verdampfen lassen würde. In das Geheimnis, wie sie's tatsächlich hinkriegen, öffnet sich die Tür einen Spalt breit durch einen neu hinzugekommenen Konkurrenten.

Der Trick ist nicht nur technischer, sondern politischer Natur. Um das Geschenkeproblem zu lösen, wird der Weihnachtsmann demokratisiert. Nicht mehr einer, sondern zehntausende von Weihnachtsmännern fluten das Erdenrund. Im Grunde muß jeder Mensch die Möglichkeit haben, auch Weihnachtsmann sein zu können. Was man sich bisher als den Maschinenraum des Weihnachtsmanns am Nordpol vorstellte, findet sich nun in den Logistikzentren von Amazon. Die neue Geschäfzsidee besteht darin – jedenfalls vorerst – nicht zu fliegen, sondern das Ganze am Boden aufzurollen. Die demokratischen Weihnachtsmänner haben keine roten Mützchen ,ehr auf und halten einem stattdessen ein schwarzes Brikett mit leuchtendem Display hin, auf das man mit dem Fingernagel seinen Namen schreiben muß. Bring, Glöckchen, Bringelingeling!

(bsc)