Die EinfĂĽhrung des EU Accessibility Act? Das wird teuer!

Es sollte selbstverständlich sein, Menschen nicht auszuschließen – doch in der IT wird genau das ständig gemacht. Ab 2025 gelten in der EU andere Regeln.

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Richterhammer vor EU-Flagge

(Bild: Marian Weyo/Shutterstock.com)

Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Golo Roden
Inhaltsverzeichnis

Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie diesen Artikel aus einem von zwei GrĂĽnden angeklickt haben. Entweder, weil Sie dachten:

"Ja, Accessibility ist wirklich ein leidiges Thema, und es kostet tatsächlich furchtbar viel, sich damit auseinanderzusetzen. Endlich spricht das mal jemand aus!"

Oder weil Sie dachten:

"Was ist das denn für eine Aussage? Natürlich kostet Accessibility Geld, aber das darf doch nicht der Maßstab sein, sich nicht mit dem Thema zu beschäftigen."

Nun, soll ich Ihnen etwas verraten? Wenn einer dieser beiden Gedanken Ihnen tatsächlich durch den Kopf gegangen ist, habe ich Sie erfolgreich auf eine falsche Fährte geführt, denn beide Interpretationen des Titels treffen nicht zu. Doch wie ist der Titel dann tatsächlich gemeint?

the next big thing – Golo Roden

Golo Roden ist Gründer und CTO von the native web GmbH. Er beschäftigt sich mit der Konzeption und Entwicklung von Web- und Cloud-Anwendungen sowie -APIs, mit einem Schwerpunkt auf Event-getriebenen und Service-basierten verteilten Architekturen. Sein Leitsatz lautet, dass Softwareentwicklung kein Selbstzweck ist, sondern immer einer zugrundeliegenden Fachlichkeit folgen muss.

Vorweg möchte ich klarstellen: Natürlich kostet Accessibility Geld. Es ist definitiv aufwendiger, sich Gedanken um Barrierefreiheit zu machen, die entsprechenden Konzepte zu erlernen und diese letztlich angemessen zu implementieren und zu testen, als dies einfach zu ignorieren. Dieses Argument ist zunächst einmal legitim. Die entscheidende Frage aber ist, und das ist der zweite Punkt, den ich bereits angedeutet habe: Darf man die Entscheidung, ob man beispielsweise eine Webseite für Menschen mit Behinderungen zugänglich macht, allein auf Basis von wirtschaftlichen Überlegungen treffen? Oder ist das nicht vielmehr ethisch fragwürdig?

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Letztlich handelt es sich dabei um keine technische, sondern eine philosophische Frage. Es geht um Ethik und Moral, um persönliche Überzeugungen, vielleicht sogar um die eigene Betroffenheit. Wer selbst eine Behinderung hat oder Menschen im nahen Umfeld kennt, die betroffen sind, wird vermutlich anders über dieses Thema denken als jemand, der meint, Menschen mit Behinderungen seien eine marginale Gruppe, die keine Rolle spielt.

Der entscheidende Punkt ist: Ganz gleich, welche Meinung Sie zu der Frage haben, wie viel man in Accessibility investieren sollte – ab dem kommenden Jahr stellt sich diese Frage schlichtweg nicht mehr. Ab dem 28. Juni 2025 haben Sie in vielen Fällen nämlich keine Wahl mehr. Denn ab diesem Datum tritt die neue EU-Richtlinie European Accessibility Act (EAA) in Kraft. Der EAA verpflichtet Sie, für bestimmte Produkte und Dienstleistungen Barrierefreiheit umzusetzen – unabhängig davon, ob Sie das wollen oder nicht.

Zu diesen Produkten und Dienstleistungen zählen unter anderem Webseiten. Die Liste ist jedoch viel länger und enthält viele allgemeine Kategorien, was bedeutet, dass sie vielseitig interpretierbar ist. Wenn man das ernst nimmt, betrifft der EAA am Ende viele Bereiche, in denen sich plötzlich jemand mit Accessibility beschäftigen muss. Dazu gehören neben Webseiten auch mobile Apps, E-Books, Self-Service-Terminals wie Geldautomaten oder Fahrkartenautomaten, Getränkeautomaten und vieles mehr. Auch "digitale Dienstleistungen" wie E-Commerce-Websites, Online-Shops, Online-Zahlungen und der Transportsektor, beispielsweise Buchungssysteme, sind betroffen. Die Anforderungen an all diese Systeme? Der EAA fordert eine einfache und effiziente Gestaltung, insbesondere in Bezug auf die Bedienbarkeit und den Zugang zu Informationen.

Warum sollten Sie sich für den EAA interessieren? Ganz einfach: Weil er ab dem 28. Juni 2025 als einheitlicher Standard in der gesamten Europäischen Union gilt. Wenn Sie also Software oder Hardware auf den Markt bringen, die zu den genannten Kategorien gehört und den Anforderungen des EAA nicht entspricht, drohen empfindliche Geldstrafen – und dann wird fehlende Accessibility richtig teuer. Die Geldstrafen fallen nämlich nicht gerade gering aus. Wer bereits dachte, die DSGVO sei teuer, wird vom EAA noch einmal überrascht werden.

Heise-Konferenz zu Accessibility in der Webentwicklung

(Bild: graphicwithart/Shutterstock.com)

Um eine Website wirklich barrierefrei und für jedermann zugänglich zu machen, muss man viele mögliche Einschränkungen auf User-Seite beachten: Sind Farben und Kontraste gut erkennbar? Sind alle Texte und Menüs mit Screenreadern kompatibel? Auf dem Accessibility Day der enterJS am 7. November lernst du, worauf du beim Entwickeln barrierefreier Websites achten solltest und was das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BSFG) – das den European Accessibility Act (EAA) umsetzt – für dich und dein Unternehmen bedeutet.

Es wird deutlich, dass es der EU ernst damit ist, das Thema Accessibility zu fördern. Ich sehe bereits, wie sich viele darüber ärgern und sagen werden:

"Warum wird das jetzt gesetzlich vorgeschrieben?"

Doch darauf gibt es eine einfache Antwort. Zum einen ist das Ganze gar nicht so neu, wie Sie vielleicht gerade denken. Es gab auch bisher schon gewisse Verpflichtungen zur Barrierefreiheit, allerdings betraf das hauptsächlich den öffentlichen Sektor, insbesondere Behörden. Dennoch gab es bereits entsprechende Regelungen, die nun erweitert werden: In Deutschland beispielsweise das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und die Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV 2). In der EU stellt seit 2018 die Web Accessibility Directive konkrete Anforderungen an Webseiten und Apps öffentlicher Stellen.

Zudem gibt es die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, die zwar keine technischen Maßnahmen fordert, aber doch eine allgemeine Zielsetzung vorgibt. Die EU hält sich unter anderem an diese Vorgaben, und die Mitgliedsstaaten waren und sind verpflichtet, Barrierefreiheit zu fördern. Das Einzige, was sich nun ändert, ist, dass sich diese Regelungen nicht mehr nur auf den öffentlichen Sektor beziehen, sondern auch auf die Privatwirtschaft und eine breitere Palette von Produkten. Die EU verfolgt damit das Ziel, die technischen Maßnahmen innerhalb der Mitgliedsstaaten zu harmonisieren, um unterschiedliche nationale Regelungen zu vermeiden.

Persönlich finde ich es traurig, dass es solche Gesetze und die Androhung von hohen Strafen braucht, um Veränderungen anzustoßen. Sollte das nicht von selbst passieren, weil es das Richtige ist? In welcher Welt ist es in Ordnung zu sagen:

"Wir ignorieren die BedĂĽrfnisse und Anforderungen einer ganzen Gruppe von Menschen, nur weil es Geld kostet?"

Natürlich verstehe ich, dass das täglich so abläuft, aber das macht es nicht weniger falsch. Und natürlich weiß ich auch, dass meine rhetorische Frage überflüssig ist, denn offensichtlich passiert der Wandel nicht von selbst, sonst wäre der EAA nicht notwendig. Dennoch finde ich es bedauerlich.

Was mich daran besonders ärgert, ist, dass Accessibility oft als Thema betrachtet wird, das nur wenige Menschen betrifft und keine Rolle im Alltag der meisten spielt. Beides ist falsch. Es betrifft nicht nur wenige Menschen. Vielleicht denken Sie bei "Menschen mit Behinderung" an jemanden, der sehbehindert oder blind ist. Doch es gibt viele Abstufungen dazwischen. Ich zum Beispiel bin zwar nicht blind, aber ich habe sehr schlechte Augen. Ohne Kontaktlinsen oder Brille bin ich im Alltag stark eingeschränkt, und ich kann außerdem auch nicht dreidimensional sehen. Mein Gehirn hat es nie gelernt, aus den Bildern beider Augen ein räumliches Bild zu konstruieren. Alles, was ich sehe, ist flach wie ein Foto, weshalb ich Entfernungen nicht einschätzen kann. Hinzu kommt, dass es mir mit zunehmendem Alter schwerer fällt, kleine oder kontrastarme Schriften zu lesen. Früher war das einfacher.

Und so gibt es viele Menschen, die nicht perfekt sehen können: Sei es wegen einer hohen Dioptrien-Zahl, einer Rot-Grün-Sehschwäche, Farbenblindheit oder anderen Einschränkungen. Und das betrifft nicht nur das Sehen. Auch der Hörsinn lässt mit dem Alter nach. Wir können im jungen Alter sehr hohe Frequenzen hören, die später nicht mehr wahrgenommen werden. Das bedeutet nicht, dass jemand vollständig gehörlos sein muss, um eine Einschränkung zu erleben. Schon eine leichte Verschlechterung des Gehörs kann problematisch sein, wenn man auf sprachbasierte Systeme angewiesen ist. Und auch diesen Menschen würde eine bessere Accessibility helfen.

Gleiches gilt für einfache Sprache oder Menschen, die aufgrund einer Verletzung, beispielsweise eines gebrochenen Arms, nicht gut mit einer Maus umgehen können. Daher ist es nicht stichhaltig zu sagen, Accessibility betreffe nur wenige Menschen. Stattdessen sollten wir uns eher fragen: Wie wenige Menschen haben keinerlei Einschränkungen in ihren Sinneswahrnehmungen? Sollten wir Webseiten tatsächlich immer so gestalten, als ob alle Nutzer perfekt sehen und hören können? Oder wäre es nicht besser, wenn wir es ermöglichen, zum Beispiel ein anderes Design mit höherem Kontrast zu wählen? Oder wenn wir Audio und Video standardmäßig mit Untertiteln oder Transkriptionen anbieten würden?

Bevor Sie nun sagen, "das braucht doch niemand", denken Sie einmal kurz nach: Warum sind eigentlich fast alle Kurzvideos untertitelt? Ganz einfach: Viele Menschen schauen sich diese Videos unterwegs an, zum Beispiel im Bus oder in der Bahn, oft ohne Kopfhörer. Das zeigt, dass es oft auch einfach Situationen gibt, in denen man dankbar für visuelle Unterstützung ist, weil man den auditiven Kanal nicht nutzen kann. Mit anderen Worten: Sollte es nicht unsere moralische Verpflichtung sein, dafür zu sorgen, dass Inklusion stattfindet und wir niemanden ausschließen? Ich finde: Ja.

Tatsächlich ist es auch gar nicht so schwierig, dabei den ersten Schritt zu machen. Gerade bei Webseiten bietet es sich an, sich mit semantischem HTML zu beschäftigen, was keine willkürliche <div>-Suppe ist, sondern dazu beiträgt, die Seite strukturell zu gliedern. Das erleichtert Screenreadern die Arbeit und ist daher eine Verbesserung. Dasselbe gilt für ARIA-Attribute, die es seit Jahren in HTML gibt, die aber kaum jemand kennt, geschweige denn einsetzt. Und natürlich wird es auch immer Situationen geben, in denen man an Grenzen stößt. Das sollte aber kein Grund sein, es nicht zumindest zu versuchen und so gut wie möglich umzusetzen. Eine bessere Nutzung von semantischem HTML führt übrigens nicht nur zu einer Verbesserung für Screenreader, sondern auch zu einer besseren Verständlichkeit der Seite für Suchmaschinen.

Um einmal ein Gefühl dafür zu bekommen, wie schwierig es ist, sich in der digitalen Welt zurechtzufinden, wenn man nicht sehen kann, aktivieren Sie doch einfach einmal die Bedienungshilfen auf Ihrem Smartphone, zum Beispiel die VoiceOver-Funktion bei iOS. Ich meine, wie schwer kann es schon sein, ein Gerät, das Sie jeden Tag unzählige Male nutzen, quasi "blind" zu bedienen? Ohne das "Erlebnis" vorwegnehmen zu wollen: Ich persönlich fand es erschreckend, wie schlecht das insgesamt funktioniert. Und dabei ist das System von Apple noch eines der besten auf dem Markt.

Dennoch habe ich nicht lange durchgehalten, bevor ich das Gefühl hatte, mein Telefon aus dem Fenster werfen zu wollen. Es ist erstaunlich, wie groß die Einschränkung tatsächlich sein kann. Dass ein Unternehmen mit einem Marktwert von über drei Billionen US-Dollar keine bessere Lösung bietet, finde ich enttäuschend. Genau deshalb brauchen wir leider doch Gesetze wie den EAA, damit sich etwas bewegt.

Für mich ist die wichtigste Erkenntnis dieses Themas: Wir alle müssen uns viel mehr mit Barrierefreiheit und Inklusion beschäftigen. Denn aktuell haben es Menschen, die nicht perfekt sehen oder hören können, in der digitalen Welt sehr viel schwerer, als man gemeinhin glaubt. Und je mehr das Digitale in unseren Alltag eindringt, desto wichtiger wird es, niemanden zurückzulassen. Accessibility ist so gesehen also weit mehr als nur ein technisches Thema – es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Und wir als Entwicklerinnen und Entwickler haben die Chance, mit relativ wenig Aufwand einen signifikanten positiven Unterschied zu machen. Und den sollten wir nutzen.

Wenn Sie von all dem nicht überzeugt sind, dann gilt ab dem kommenden Jahr der European Accessibility Act – und spätestens dann wird niemand mehr fragen, ob Sie Accessibility für sinnvoll erachten oder nicht. Dann sind Sie dazu verpflichtet. Aber wie schön wäre es, wenn möglichst viele Menschen von sich aus erkennen, dass es eigentlich freiwillig geschehen sollte – weil es das Richtige ist. In diesem Sinne möchte ich diesen Beitrag mit dem kleinen Appell beenden: Lassen Sie uns alle dazu beitragen, die Welt zu einem etwas besseren Ort zu machen für all jene, die es im Alltag ohnehin schon unnötig schwer haben.

PS: Übrigens, auch wir bei the native web machen dabei definitiv nicht alles richtig, ich möchte uns nicht auf ein Podest stellen. Unsere aktuelle Website ist sicherlich kein Vorzeigeprojekt, aber das wird sich in der nächsten Version ändern.

(mai)