Falsche Straße? Kein Vertrag!

Social Scoring chinesischer Prägung gilt im Westen als gruselig. Dabei gibt es hierzulande längst viel perfidere Ansätze.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 4 Kommentare lesen
Lesezeit: 4 Min.

Wer zu oft bei Rot über die Ampel geht, der falschen Glaubensrichtung anhängt oder die Regierung kritisiert, bekommt künftig keine Kredite und keine Flugtickets mehr. Das ist, etwas überspitzt, die westliche Sicht auf das geplante Social-Scoring-System der chinesischen Regierung. Es ist zwar noch offen, wie rigoros dieses System tatsächlich eingesetzt wird, aber für eine westliche Demokratie wäre eine solche Bürgerbewertung ein unzulässiger Übergriff.

Dabei wird allerdings gerne übersehen, dass es sie auch im Westen in ähnlicher Form längst gibt. "Ein paralleles System entwickelt sich in den Vereinigten Staaten, teilweise als Folge der Nutzerrichtlinien der Technologie-Branche, teilweise durch die Überwachung von Social-Media-Aktivitäten durch private Unternehmen", schreibt das US-Magazin Fast Company und nennt einige Beispiele: Lebensversicherungen etwa werten Fast Company zufolge zunehmend die Posts ihrer Kunden aus. "Das Instagram-Bild, das Sie zeigt, wie Sie einen Grizzly-Bären ärgern, mit einem Martini in der einen Hand, einem Eimer frittiertem Käse in der anderen, und einer Zigarette im Mund, könnte teuer für Sie werden.“

Ein Unternehmen namens PatronScan, das Scanner für Ausweise anbietet, verbreitet für Gastwirte eine Schwarze Liste mit unerwünschten Gästen. Jeder Kneipen- oder Restaurantbesitzer kann selbst nach Gutdünken entscheiden, wer auf diese Liste kommt – und sie unter anderen Gastronomen weiterverbreiten. Und auf Plattformen wie Uber, AirBnB oder Mobike werden nicht nur die Anbieter bewertet, sondern auch die Kunden selbst. Wer sich daneben benimmt, kann ohne Angabe von Gründen blockiert werden. Das Gleiche kann laut Fast Company auch dem drohen, der bei WhatsApp von zu vielen anderen Nutzern blockiert wird.

Nun ist es legitim und auch im Interesse anderer Kunden, dass sich Plattformen die Störenfriede vom Hals halten. Außerdem ist es von solchen isolierten Diensten noch ein weiter Schritt zu einem zentralen staatlichen Register chinesischer Prägung. Wo also ist das Problem? "Vergehen werden außerhalb des Rechtssystems bestraft, was bedeutet, dass es weder eine Unschuldsvermutung, keinen Richter, keine Jury und oft auch keine Einspruchsmöglichkeit gibt", schreibt Fast Company. "Mit anderen Worten, es ist ein alternatives Rechtssystem, wo die Beschuldigten weniger Rechte haben. Wenn die Öffentlichkeit damit ein Problem hat, kann sie nicht einfach neue Gesetzgeber wählen. Es ist ein rutschiger Abhang von der Demokratie zur Korporatokratie."

Dass die chinesischen Bürger sich ebenfalls keine anderen Gesetzgeber wählen können, macht die Sache nicht besser. Dazu kommt, dass einige private Firmen eine ähnlich zentrale Bedeutung für das Leben eines Menschen einnehmen können wie der Staat. Ein Beispiel aus Deutschland illustriert das: Ein 52-jähriger Lehrer aus Hannover bekam nach einem Bericht der Hannoverschen Allgemeinen (HAZ) wegen angeblich mangelnder Bonität keinen Mobilfunkvertrag. Er holte sich eine Selbstauskunft bei Creditreform Boniversum ein, einer Auskunftei wie die Schufa. Das Ergebnis: Sämtliche Einträge waren positiv, der einzige negative Eintrag war seine Adresse – eine Straße im Stadtteil Linden-Nord, die offenbar schlecht beleumundet ist. Das allein reichte, seinen Score unter eine kritische Schwelle zu drücken.

Mit anderen Worten: er bekommt keinen Mobilfunkvertrag, weil er in der falschen Straße wohnt. Die Verbraucherzentrale Niedersachsen bestätigte gegenüber der HAZ, dass so etwas öfter vorkomme. Laut Boniversum-Geschäftsführer, den die HAZ zitiert, könne es sogar "negativ zu Buche schlagen, wenn jemand häufig zu nachtschlafender Zeit bei einem Onlineshop bestellt – dieser Kunde dürfte wohl kaum einer geregelten Tätigkeit nachgehen, die morgens um sieben beginnt".

Bei Licht betrachtet ist das sogar noch perfider als ein persönlicher Score: Der Kunde wir in Sippenhaft genommen für seine Nachbarschaft, an der er wenig ändern kann – außer umzuziehen.

(grh)