Indiegogo, Kickstarter & Co – Die dunkle Seite des Crowdfunding

Wer in Crowdfunding-Projekte investiert, muss sich den Risiken bewusst sein. Die Plattformen weisen meist jede Verantwortung von sich.

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(Bild: (c) Flickr)

Lesezeit: 13 Min.
Von
  • Dr. Michael Stal
Inhaltsverzeichnis

Crowdfunding hilft beim Anstoßen von Projekten, indem zahlreiche Unterstützer in ein Projekt investieren, an das sie glauben. Der Erfolg ist aber nicht garantiert, und es gilt auf Betrugsmaschen zu achten, zumal die Crowdfunding-Plattformen das Risiko auf die Investoren abwälzen.

Der Pragmatische Architekt – Michael Stal

Prof. Dr. Michael Stal arbeitet seit 1991 bei Siemens Technology. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Softwarearchitekturen für große komplexe Systeme (Verteilte Systeme, Cloud Computing, IIoT), Eingebettte Systeme, und Künstliche Intelligenz. Er berät Geschäftsbereiche in Softwarearchitekturfragen und ist für die Architekturausbildung der Senior-Software-Architekten bei Siemens verantwortlich.

Ich möchte mit einer Erfolgsgeschichte beginnen:

Bambu Lab war völlig unbekannt, als das aufstrebende 3D-Drucker-Unternehmen seine X1/X1C-Kampagne über Kickstarter startete. Es sammelte schließlich fast 55 Millionen HK-$ von 5575 Unterstützern. In den folgenden Monaten stellte Bambu Lab die X1/X1C-Produktlinie fertig und schickte alle Perks an die Unterstützer. Dieser neue CoreXY 3D-Drucker erwies sich als revolutionäres, preisgekröntes und äußerst erfolgreiches Produkt, dem bald weitere Produkte wie der P1P und der P1S folgten. Es erübrigt sich zu sagen, dass Bambu Lab eine riesige Erfolgsgeschichte mit einem glücklichen Ende für das Crowdfunding-Unternehmen, den Kampagneninhaber und die Unterstützer war.

Einer der Vorteile von Crowdfunding lässt sich wie folgt zusammenfassen: Crowdfunding-Plattformen bringen innovative Kampagnenmacher und begeisterte Unterstützer zusammen. Sie ermöglichen es Start-ups und etablierten Unternehmen, Finanzmittel für innovative Produkte zu erhalten.

Im Nachhinein betrachtet, funktionieren nicht alle Kampagnen so gut. In einigen Fällen liefern die Werber kein Produkt, stellen nur ein unterdurchschnittliches Produkt her, haben kein Geld mehr oder entpuppen sich als Betrüger. Jahr für Jahr gehen auf diese Weise Millionen von US-Dollar verloren. Es ist nie vorhersehbar, ob ein Projekt erfolgreich sein wird, wie es bei Joint Ventures ebenfalls der Fall ist. Gründe für das Scheitern können die Undurchführbarkeit der Innovation, Budgetüberschreitungen, enorme Projektverzögerungen durch unglückliche Umstände wie Covid-19, zu niedrig angesetzte Kosten oder drastische Preiserhöhungen für notwendige Komponenten sein.

Das Scheitern von Projekten lässt sich zwar nie vermeiden, aber Betrug schon.

Ein chinesischer Kampagnenbetreiber sammelte mit seiner Indiegogo-Kampagne für den kleinsten Mini-PC der Welt über eine Million US-Dollar ein, schaffte aber keine der versprochenen Perks. Nach einiger Zeit gab es sogar keine Kommunikation mehr zwischen den Unterstützern und dem Kampagnenbesitzer. Es schien, als sei der Eigentümer einfach von der Bildfläche verschwunden. Als die Unterstützer Indiegogo um Hilfe baten, fühlte sich das Crowdfunding-Unternehmen nicht zuständig. Sie sperrte einfach alle weiteren Beiträge, versah die Projektwebsite mit dem Hinweis "Diese Kampagne wird derzeit untersucht", lieferte aber weder die Ergebnisse der sogenannten Untersuchung noch eine Rückerstattung an die betrogenen Kunden.

Lektion 1: Crowdfunding-Unternehmen kümmern sich nicht (allzu sehr) um die Unterstützer. Sie verdienen Geld, indem sie eine Plattform für verschiedene Parteien bereitstellen, und behandeln die Geldgeber wie Risikokapitalgeber, die alle Risiken selbst tragen sollen.

Indiegogo und Kickstarter agieren im Grunde wie Wettbüros für Pferderennen, bei denen fast keine Transparenz über die Pferdebesitzer (auch Kampagnenbesitzer genannt) herrscht. Jeder Teilnehmer an solchen Szenarien trägt hohe Risiken, wobei das Wettbüro die einzige Ausnahme ist. Offensichtlich sind die Regeln zwischen den Kunden und der Crowdfunding-Plattform so definiert, dass die Bank (oder das Wettbüro) immer gewinnt.

Lektion 2: Wer sich an einer Crowdfunding-Kampagne beteiligen möchte, sollte mit einem Scheitern des Projekts und dem vollständigen Verlust der Beiträge leben können.

Jeder Unterstützer sollte sich dieser Realität bewusst sein. Er/sie könnte seinen/ihren gesamten Beitrag verlieren oder ein überbezahltes oder sogar nutzloses Produkt erhalten. Sicher, die Mehrheit der Kampagnen ist letztlich erfolgreich. Es gibt jedoch auch eine beträchtliche Anzahl von Kampagnen, die scheitern. Ich mache mir keine Sorgen um das Scheitern von Projekten trotz der enormen Anstrengungen der Kampagnenbetreiber. Das ist ein bekanntes und akzeptables Risiko, das die Geldgeber im Hinterkopf behalten sollten, wenn sie einen Beitrag leisten. Aber ich mache mir Sorgen um betrügerische Kampagnen, bei denen die Betreiber einfach die gesammelten Beiträge nehmen und verschwinden.

Lektion 3: Wer dringend ein bestimmtes Produkt benötigt, sollte sich nicht an einer Crowdfunding-Kampagne beteiligen, sondern es stattdessen bei etablierten Quellen kaufen.

Lektion 4: Derzeit gibt es keine Sicherheitsnetze für Unterstützer. Auch gibt es keine Transparenz oder Rechenschaftspflicht gegenüber den Kampagnenbetreibern. Eine Kampagne gleicht einem Spiel oder einer Wette auf die Zukunft, ohne ausreichende Transparenz in Bezug auf die Eigentümer der Kampagne.

Lektion 5: Man sollte nicht den Videos und Dokumenten trauen, die von Kampagnenbetreibern bereitgestellt werden. Diese Informationen sollte man als eine reine Marketing- und Werbekampagne betrachten und niemals irgendwelchen Versprechungen trauen, vor allem nicht solchen, die unrealistisch oder sehr, sehr schwierig zu erfüllen scheinen. Sätze wie "das weltweit erste", "das weltweit schnellste" oder "das weltweit kleinste" sollten die Unterstützer skeptisch machen.

Was könnte man tun, um solche Situationen zu vermeiden? Oder ist die Crowdfunding-Plattform von Natur aus nicht in der Lage, die Unterstützer zu schützen?

Eigentlich sollte es eine Art Vertrauensverhältnis zwischen allen Akteuren im Spiel geben – ja, es ist ein Spiel beziehungsweise eine Wette! Um das richtige Maß an Vertrauen zu erreichen, muss ein Crowdfunding-Unternehmen folgende Dienstleistungen anbieten:

  • Persönliche Identifizierung aller Kampagnenbesitzer mit offiziellen und legalen Dokumenten wie Pässen, Führerscheinen, Wohnorten. Dies ermöglicht es Unternehmen wie Indiegogo oder Kickstarter, mit den Kampagneninhabern in Kontakt zu bleiben und sie aufzuspüren. Natürlich können Pässe und andere Dokumente gefälscht werden, aber das erfordert einen erheblichen kriminellen Aufwand.
  • Transparenz: Wenn wir bestehende Kampagnen analysieren, ist mangelnde Transparenz eines der größten Probleme. Mit "mangelnder Transparenz" meine ich die Tatsache, dass die Geldgeber oft fast nichts über die Eigentümer der Kampagne wissen. Das hängt mit dem vorherigen Aspekt zusammen: Während die Geldgeber bei Kreditkartenzahlungen garantieren müssen, dass sie vertrauenswürdig sind (was von den Kreditkartenunternehmen überprüft wird), erhalten sie im Gegenzug nur eine winzige Menge an Informationen über die Kampagnenbesitzer. Moment mal! Ich zahle meinen Beitrag an Personen, die größtenteils anonym sind (d. h. sich hinter einer Kampagnen-Website verstecken)? Die Antwort lautet leider ja. Es reicht nicht aus, wenn nur das Crowdfunding-Unternehmen über detaillierte Informationen über die Eigentümer der Kampagne verfügt.
  • Due-Diligence-Maßnahmen würden erfordern, dass ein Crowdfunding-Unternehmen technisch überprüft, ob eine Kampagne bzw. ein Projekt durchführbar ist. Zu diesem Zweck können sie Experten auf dem jeweiligen Gebiet einstellen, um die Behauptungen der Kampagneninhaber zu überprüfen. Darüber hinaus sollten sie den Hintergrund der Kampagnenbesitzer, seien es Unternehmen oder Einzelpersonen, überprüfen. Wenn ein erfolgreiches Unternehmen wie Anker als Eigentümer der Kampagne fungiert, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Backer die angebotenen Vergünstigungen und Belohnungen erhalten, wesentlich höher. Ist der Initiator der Kampagne hingegen unbekannt, ist das Risiko deutlich höher. Wenn man über Kampagnen und ihre Urheber nachdenkt, sollte man auch an deren Verantwortlichkeit denken.
  • Kontrolle und Ausgewogenheit: schrittweise Überweisung der Beiträge anstelle einer vollständigen Zahlung auf einmal. Dies könnte etwas schwierig zu erreichen sein, da von den Kampagneninhabern sicherlich einige Vorabinvestitionen verlangt werden. Dennoch würde ich in diesem Zusammenhang eher die Haltung einer Bank (Crowdfunding-Plattform) und eines Kreditnehmers (Kampagnenbesitzer) erwarten. In jedem Schritt wie Prototyping, Testen, endgültiges Produktdesign, Herstellung und Auslieferung sollte das Crowdfunding-Unternehmen von den Kampagneninhabern Nachweise darüber verlangen, was sie mit den Crowdfunding-Investitionen bisher getan und erreicht haben. Für das Prototyping wird zum Beispiel nur ein kleinerer Geldbetrag benötigt. Wenn sie einen erfolgreichen Prototyp entwickelt haben, können sie mit der Fertigstellung des Produkts fortfahren. Wenn das Produkt fertig ist, geht es weiter mit der Herstellung. Bei jedem Schritt erhalten sie einen vorher festgelegten Prozentsatz der Finanzierung. Darüber hinaus müssen die Kampagneninhaber einen konkreten Zeitplan für alle ihre Aktivitäten vorlegen. Wenn sich ein Schritt verzögert, können keine weiteren Gelder erhalten werden, bis der Schritt abgeschlossen ist. Eine Art Ampel auf der Projektwebsite könnte den aktuellen Risikograd einer Kampagne darstellen.
  • Lieferung: Für jedes Projekt müssen die Kampagneninhaber nachweisen, dass sie die Vergünstigungen und Belohnungen tatsächlich an ihre Unterstützer versandt haben, indem sie entsprechende Dokumente des Lieferdienstes vorlegen. Meiner Erfahrung nach haben einige Kampagnenbetreiber die Vergünstigungen als versandt gekennzeichnet, ohne wirklich etwas zu versenden.
  • Kein Verkauf über andere Kanäle: Bei einigen Kampagnen begannen die Entwickler von Produkten bzw. Lösungen, ihre Produkte oder Lösungen über ihre Websites zu verkaufen, bevor einige Unterstützer ihre Vergünstigungen überhaupt erhalten hatten. Der Vertrag zwischen Unterstützern und Crowdsourcing-Plattformen sollte diese Möglichkeit definitiv ausschließen. Wenn Geldgeber über eine Crowdfunding-Kampagne Geld für die Produktentwicklung ausgeben, müssen sie die ersten sein, die die Produkte und die freigeschalteten Belohnungen erhalten. Darüber hinaus waren einige der verkauften Produkte deutlich billiger als der angegebene UVP. Das sieht nach Betrug aus, riecht nach Betrug und ist Betrug. In solchen Fällen würde ich erwarten, dass die Kampagnenbetreiber Strafen an die Unterstützer zahlen müssen.

Eigene Gegenmaßnahmen

Für Backer bzw. Sponsoren einer Crowdfunding-Kampagne existieren aufgrund der beschriebenen Tatsachen zurzeit nur wenige Möglichkeiten, Risiken zu vermeiden. Eine offensichtliche, wenn auch radikale Option wäre, einfach nicht an Crowdfunding-Kampagnen teilzunehmen. Würden alle Nutzer so verfahren, gingen allerdings Anbieter wie Kickstarter in kürzester Zeit pleite. Zudem hätten die ehrlichen, kleinen Kampagnenbetreiber das Nachsehen, die ohne diese Geldquelle ihre Projekte nicht umsetzen könnten.

Daher ist das erste Gebot, sich über den jeweiligen Kampagnenbetreiber detaillierte Informationen zu beschaffen. Natürlich hat diese Informationsakquise ihre Grenzen. Ist der Kampagnenbetreiber eine renommierte, bekannte Firma, die bereits seit Längerem im Geschäft ist und gute Produkte auf den Markt bringt? Falls ja, dürfte das Risiko erheblich geringer sein als bei "dubiosen" oder mehr oder weniger "anonymen" Geschäftspartnern. Inzwischen nutzen auch renommierte Unternehmen zunehmend die Möglichkeit des Crowdfunding.

Eine weitere Möglichkeit besteht darin, sich auf dem Markt nach ähnlichen Produkten umzusehen. Nicht jedes als innovativ angepriesenes Produkt ist es wirklich. Gibt es bereits stark verwandte Alternativen, sollte man besser zu diesen greifen. Es hat insbesondere Vorteile, Produkte von einem Shop zu beziehen, wenn Käufe dort abgesichert sind wie bei Zahlung über Paypal oder Kreditkarte der Fall.

Fast jedes über Kickstarter oder Indiegogo erworbene Produkt ist nach Beendigung der Kampagne über Stores verfügbar, wenn auch zu höheren Preisen. Die Ersparnis durch Finanzierung einer Kampagne gegenüber dem UVP kann schon einiges ausmachen. In manchen Fallen könnte sich ein Abwarten trotzdem vor allem lohnen, wenn die Differenz zwischen Crowdfunding-Preis und Endpreis eher marginal ist. Abwarten hat auch den Vorteil, dass relativ zeitnah nach Produktveröffentlichungen in der Regel auch einige Produktreviews folgen, denen Interessierte die Vorteile und Nachteile des Produkts entnehmen können. Bei Crowdfunding kauft man schließlich die Katze im Sack.

Teilweise finden sich bei der Websuche auch Bewertungen von Kampagnen, bei denen zum Teil Experten ihre Einschätzung verlautbaren. Diese Quellen erweisen sich oft als sehr hilfreich.

Crowdfunding-Sponsoren sollten sich nicht von virtuellen Demo-Videos oder Lobpreisungen des Anbieters mit Superlativen täuschen lassen. Zeigt ein Demovideo nur das grafisch simulierte Produkt, kann das zwar die einzige Option des Herstellers sein, aber auch ein bewusst produziertes Fake. Beispielsweise hat eine Kampagne für 3D-Drucker den Druckkopf in unterschiedlichen Varianten gezeigt, wovon aber bei den angebotenen Perks nie die Rede war. Aber auch bei der Illustration echter Prototypen ist Vorsicht geboten. Dahinter kann sich schließlich Dummy-Funktionalität verbergen. Stutzig sollten Interessierte werden, wenn das Produkt nie im Detail erscheint. Gehen aus der Beschreibung technische Spezifikationen und die Funktionsweise detailliert hervor, so lässt es sich besser einschätzen als bei vagen, lückenhaften, unrealistischen oder schwammigen Aussagen.

Wie bereits erwähnt, sollten Geldgeber ihre eigene Risikobereitschaft unter die Lupe nehmen. Handelt es sich um höhere Geldbeträge, deren Verlust sehr schmerzhaft wäre, sollte man von einer Kampagne Abstand nehmen. Das ist zugegebenermaßen schwer, weil sich Kampagnen unseren instinktiven Hang nach Vergünstigungen und coolen Gadgets zunutze machen. Es geht darum, unsere Entscheidungen bewusst und vernünftig zu treffen. Eine Nacht darüber zu schlafen, ist hier immer die bessere Option, auch wenn dann statt den Super-Early-Bird-Angeboten nur noch Early-Bird-Angebote übrigbleiben. Es empfiehlt sich, nicht gleich zu dem eigentlichen Produkt alles mögliche Zubehör mitzubestellen. Ist das Projekt erfolgreich, lässt sich Zubehör auch im Nachhinein bestellen. Dadurch bleibt der eingesetzte Geld- beziehungsweise Wettbetrag geringer.

Einige mögen argumentieren, dass all diese Maßnahmen die Freiheit der Kampagnenbesitzer einschränken. In dieser Hinsicht haben sie recht. Allerdings besteht derzeit ein Ungleichgewicht zwischen Geldgebern, Kampagneninitiatoren und Crowdfunding-Plattformen, sodass die meisten Risiken bei den Geldgebern liegen. Daher erscheint es mehr als fair, diese Risiken unter allen Beteiligten aufzuteilen. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich Crowdfunding zu einer Sackgasse entwickelt, wenn Unternehmen wie Indiegogo weiterhin alle Lasten auf die Unterstützer abwälzen, sich nicht um Betrug kümmern, sich weigern, Sicherheitsnetze zu schaffen, oder die hohe Intransparenz beibehalten. Wenn sie jedoch alle oder zumindest einige der oben genannten Maßnahmen umsetzen, wird sich dies eindeutig als ein Win/Win/Win-Szenario herausstellen. (rme)