Als die Rechner online gingen

Bevor das Internet kommerzialisiert wurde, diente es vor allem dem Austausch und erster E-Mails zwischen Universitäten. Doch die Protokolle wie TCP/IP mussten sich erst gegen Konkurrenten durchsetzen.

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Als die Rechner online gingen
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  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Das Internet hat viele Väter und Mütter. Dementsprechend gibt es viele Geburtstage zu feiern. Einer dieser Feiertage ist der 29. Oktober. Im Jahre 1969 versuchte Charley Kline, sich im Computer Lab der Universität von Kalifornien in Los Angeles (UCLA) in einen Computer am Stanford Research Institute (SRI) einzuloggen.

Kline war als Doktorand der Assistent des Informatik-Professors Leonard Kleinrock und betreute in seinem Auftrag ein paar Forschungsrechner. Rund 20 Leute waren anwesend, als Kline die Verbindung von einem Computer über eine Telefonleitung und einen Hilfscomputer zum anderen Computer nach Stanford schaltete.

Als die Befehlszeile des SRI-Rechners auf Eingabe wartete, versuchte Kline „Login“ zu übermitteln. Über „Lo“ kam er nicht hinaus, denn das g kam nicht an, dann brach die Verbindung ab. Aber die erste Host-zu-Host-Kommunikation hatte stattgefunden und war um 22:30 von beiden auch per Telefon zusammengeschalteten Admins der UCLA und des SRI in den Logbüchern dokumentiert worden.

c't Retro 2019

Dieser Artikel ist Teil der c't-Ausgabe 27/2019

Bald wurden ein weiterer Rechner an der Westküste in Santa Barbara angeschlossen und eine erste Langstrecke nach Utah installiert: Das „Arpanet“ nahm seine Arbeit auf. Das von der Forschungsbehörde ARPA (Advanced Research Projects Agency, später DARPA) finanzierte Vernetzungsprojekt war mindestens ebenso wichtig wie die Mondlandung von 1969, bei der die Bodenstationen auf den US-Schiffen noch mit Fernschreibern kommunizieren mussten.

In diesem Artikel beschreiben wir die Frühzeit des Netzes, bis hin zu der Zeit, als das NSFnet der National Science Foundation als direkter Nachfolger des Arpanets von kommerziellen Internet-Providern abgelöst wurde. Damals veröffentlichte die c’t im Oktober 1994 den Schwerpunkt „Datenautobahn in Deutschland“. Ich schrieb über die anstehende Kommerzialisierung des Netzes unter dem heute immer noch passenden Titel „Sex, Lügen und Video“: „Eine ziemlich wilde Koalition von Aktivisten und Konzernen probiert sich an der Bestäubung der lukrativen Heimelektronik, die endlich Sinn, womöglich Demokratie oder gar bilaterale Kommunikation bringen soll. Jedenfalls ist das die Hoffnung der einen Fraktion, während die andere von Netzbandbreiten, Profit, Wachstumsmärkten und Umschlagszeiten redet.“

Zurück zu den Anfängen: Die ARPA war eine Forschungsagentur, die 1956 mit einem riesigen Etat von 520 Millionen Dollar geplant wurde und im Vollausbau über zwei Milliarden Dollar erhalten sollte. Nachdem man aus ihr die prestigeträchtige Weltraumagentur NASA mit ihrem Mondlandungsprogramm abspaltete, wurde die ARPA als schlanke Behörde konzipiert, die gezielt forschende Projekte verwaltete. Wissenschaftler-Teams, die Lösungen fanden, wurden ermutigt, sich mit Firmengründungen selbstständig zu machen, lange bevor das Wort Start-up bekannt wurde.

Im Jahre 1969 bestand das Arpanet aus 4 Rechnern im Osten der USA.

(Bild: „The Arpanet Sourcebook“ von Peter H. Salus)

Eine wichtige Abteilung der Forschungsagentur war das Information Processing Techniques Office (IPTO). Im Auftrag des IPTO entwickelten Wissenschaftler am Massachusetts Institute of Technology (MIT) das Prinzip des Time-Sharing zur besseren Ausnutzung von Rechnerkapazitäten.

Kümmerliche zwei Millionen Dollar flossen in das Time-Sharing-Projekt MAC (Multi Access Computer). In diesem Projekt entwickelten MIT-Wissenschaftler wie Corby Corbator zusammen mit Ingenieuren der Telefongesellschaft Bell das Betriebssystem Multics, aus dem später Unix hervorging. Frühzeitig kam man hier auf die Idee, dass Benutzer nicht nur an direkt angeschlossen Terminals arbeiten, sondern sich über Telefonleitungen einloggen können.

Leonard Kleinrock, damals noch Student, veröffentlichte 1961 die Grundlagen dieser Kommunikation, bei der Datenpakete verschickt wurden: „Information Flow in Large Communication Nets“. 1965 gelang Kleinrock der experimentelle Nachweis mit der Verbindung eines Computers am MIT zu einem nach Kalifornien.

Im Jahre 1962 wurde J.C.R Licklider Leiter des IPTO. Der gelernte Psychologe hatte zuvor am Project MAC gearbeitet und skizzierte erstmals das Vorhaben, alle großen Computer der Universitäten zusammenzuschließen, die für die ARPA forschten. Sein Nachfolger Bob Taylor steckte 1966 eine Million Dollar in das Projekt „Arpanet“, das Licklider zuvor in aller Großartigkeit als „Intergalactic Computer Network“ benannt hatte. Für die Arbeit am Arpanet wurde der MIT-Forscher Lawrence Roberts eingestellt.

Als Roberts und Kleinrock die Idee dieses Computernetzwerkes 1967 auf einer Konferenz der ACM vorstellten, mussten sie feststellen, dass andere Forscher die gleiche Idee hatten: Die Briten Donald Davies und Roger Scantlebury hatten am National Physical Laboratory den Plan eines „National Communications Service for Online Data Processing“ entwickelt. Und sie wussten überdies, dass ein weiterer US-Amerikaner sich mit der Vernetzung beschäftigte, wenn auch aus einem anderen Grund.

Im Auftrag der Air Force beschäftigte sich Paul Baren bei der RAND Corporation mit Kommunikationsnetzen. Am 27. May 1960 veröffentlichte RAND Barans Überlegungen „Reliable Digital Communication Systems Using Unrealiable Repeater Nodes“, in denen er seine Idee paketvermittelter Kommunikation und besonders das „hot potato routing“ erklärte. Im September 1962 folgte Barans erste Fassung von „On Distributed Communications“, in der er sich mit der Frage der Adressierung von Datenpaketen und dem Verlust von Daten beim Routing beschäftigte.

Obwohl für die Air Force geschrieben, waren beide Papiere nicht als geheim klassifiziert und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich, im Unterschied zu Barans elf späteren Arbeiten von 1964, die heute als „On Distributed Communications“ bekannt sind: In diesen behandelte Baran Themen wie verschlüsselte Kommunikation und erörterte physische und logistische Schwachstellen in den damals existierenden Kommunikationsketten der Air Force. Wie die Abbildungen zeigen, beschäftigte sich Baran mit Überlegungen, mit wie viel beteiligten unterschiedlichen Computern ein solches Netz so gestaltet werden kann, dass ein angreifender Feind die Kommunikation nicht abwürgen kann. Er schrieb:

„But a real-life system is a collection of compromises, and this system is no exception. The author believes, though, that it represents an acceptable price to have to pay for a national communication system able to meet the extreme demands of survivability in the face of a determined enemy.“

Von den Pionieren, die später das Arpanet errichteten, hatten nur Licklider und Kleinrock Zugriff auf die als geheim klassifizierten Überlegungen von Baran. Sie beschäftigte nicht der Gedanke an den „Russen“, sondern die Grundannahme, dass das Netz unzuverlässig ist und jeder Teil des Netzwerkes mal ausfallen kann, die Kommunikation aber trotzdem stabil bleibt, egal ob ein gefräßiger Bagger ein Kabel kappt oder eine Funkstrecke gestört ist. Zusammen mit seinem IPTO-Nachfolger Bob Taylor machte sich Licklider daran, die Dimensionen dieses Forschungsnetzes zu berechnen. Sie kamen zu dem Schluss, dass das Forschungsnetz bis 1978 etwa 14 Universitätscomputer und 2000 Wissenschaftler miteinander verbinden könnte. Das war schon ganz ordentlich.

Den beiden Vernetzungs-Enthusiasten ging es auch darum, die Idee eines universalen Kommunikationssystems einem breiteren Publikum zu vermitteln. Im Jahre 1968 erschien ihr Aufsatz „The Computer as a Communication Device“ als Teil einer Broschüre, mit der man bei Digital Equipment (DEC) die Zukunft des Computerns beschrieb. Die Schrift, illustriert mit Zeichnungen des Karikaturisten Roland Wilson, befasste sich erstmals mit dem Gedanken des „vernetzten Lebens“ in einer Informationsgesellschaft, wenn alle Menschen über Konsolen miteinander verbunden sind und ihre Freundschaften weltweit entwickeln können, befreit von der zufälligen Nachbarschaft eines Wohnortes.

8 Nerds und der von ihnen entwickelte Internet Message Procesor (IMP).

(Bild: „Nerds“ von Stephen Segaller)

Wie sich die künftige Informationsgesellschaft entwickeln kann, hänge zentral von der Frage ab, ob die Möglichkeit „On-Line“ zu sein, ein Privileg weniger oder das Recht aller sein werde, schrieben Licklider und Taylor ganz im Geiste der herrschenden Fortschrittsgläubigkeit.

Ihr Text endete optimistisch: „Unemployment would disappear from the face of the earth forever, for consider the magnitude of the task of adapting the network’s software to all the new generations of computer, coming closer and closer upon the heels of their predecessors until the entire population of the world is caught up in an infinite crescendo of online interactive debugging.“ Ein Leben lang debuggen, wer will das nicht?

Damit höchst unterschiedliche Host-Computer wie die in Stanford und Los Angeles miteinander in einem Netzwerk kommunizieren können, bedarf es eines Kommunikationsprozessors, der die Datenpakete in das Format des Host-Betriebssystems umwandelt. Für den Aufsatz von Licklider und Taylor zeichnete Wilson ein Netz von Nervenzellen, in dem um jeden Netzknoten ein solcher Message-Processor als Zwischenschicht existiert, der mit anderen Knoten verbunden ist, und skizzierte, wie eine Nachricht von Knoten zu Knoten wandern kann (siehe Abbildung).

Technisch exakt wurde die Umsetzung von einem Team unter Leonard Kleinrock beschrieben und als „Communication Nets: Stochastic Message Flow and Delay“ veröffentlicht. Danach schickte die ARPA einen „Request for Quotation“ heraus, mit detaillierten Anforderungen, was ein solcher Vermittlungscomputer leisten soll.

1973 war das Netz schon größer geworden.

(Bild: Vint Cerf 1999)

Jeder Node sollte mit einer Leistung von 50 kBit/s Datenpakete senden und empfangen können. Die Ausschreibung zu diesem Interface Message Processor (IMP) wurde im Dezember 1968 von der jungen Firma Bolt, Beranek & Newman (BBN) gewonnen, selbst eine Ausgründung von ARPA-Forschern. Ein Team um den Cheftechniker Frank Heart entschied sich dafür, den kühlschrankgroßen Mini-Computer Honeywell DDP-516 zum Message-Processor umzubauen. Gefordert war ein System, das unbeaufsichtigt Nachrichten (zunächst Postcards genannt) empfangen, zwischenspeichern und senden beziehungsweise weitersenden und aus der Ferne gewartet werden konnte.

Nach den schließlich erfolgreichen Tests, die bis Ende 1969 mit IMPs und Hosts an den vier Standorten Stanford (SDS 940), Los Angeles (SDS Sigma 7), Santa Barabara (IBM System/360) und Utah (PDP-10) durchgeführt wurden, blieb der fünfte IMP bei BBN in Cambridge stehen. Von hier aus sollten alle Wartungsarbeiten durchgeführt werden, während man gleichzeitig eine Art Serienproduktion aufbaute. BBN, im Sprachgebrauch der Arpanetler fortan nur „The Factory“ genannt, baute bis 1972 30 Honeywell-Rechner zu IMPs um. Einige von ihnen wurden per „Airmail“ ausgeliefert: Ein Hubschrauber hievte die Kühlschränke in die Rechenzentren, in denen die Host-Computer standen.

Während die Host-Computer weiter mit ihren jeweiligen Betriebssystemen beziehungsweise Multiuser-Systemen arbeiteten, entwickelte man bei BBN ein eigenes Betriebsystem namens TENEX. Im Jahre 1971 schrieb der BBN-Mitarbeiter Ray Tomlinson das Programm NETML (Netmail) für TENEX, mit dem man sich kleine Nachrichten zuschicken konnte. Zur Adressierung nutzte Tomlinson seinen Usernamen, das unter TENEX freie Zeichen @ und den Namen des Hosts: die E-Mail war geboren. Am Anfang der Mail-Verschickerei mussten beide Teilnehmer „online“ sein, erst mit dem später entwickelten SMTP entstand die E-Mail im heutigen Sinne.

Was Tomlinson in seiner ersten Mail von tomlinson@bbn-tenexa nach tomlinson@bbn-tenexb schrieb, ist nicht bekannt. Es wird wohl etwas wie QWERTY gewesen sein. Als Tomlinson und seine Gruppe 1972 die nächste Version von TENEX fertiggestellt und ausgeliefert hatten, entdeckten sie erstaunt, dass die neue „Net-Mail“ das beliebteste Programm unter den Anwendern war. Es dauerte kein halbes Jahr, bis alle anderen Hostsysteme ebenfalls ein Net-Mail-Äquivalent bekamen.

Im Oktober 1972 fand in Washington die International Conference on Computer Communication (ICCC) statt. Bei der ARPA entschloss man sich, im Hilton-Hotel einen temporären Arpanet-Node mit einem Host und 50 Terminals zu installieren und damals erstmals öffentlich zu zeigen. Zu diesem Zeitpunkt bestand das Arpanet aus 29 Knoten. Jeder Konferenzteilnehmer sollte sich im Netz auf einem Host seiner Wahl einloggen können.

Zur ersten Demonstration loggte sich Leonard Kleinrock auf dem Knoten in Los Angeles ein, holte dort eine Datei und ließ sie auf dem Host am MIT berechnen mit dem Befehl, als Ausgabe einen Drucker zu benutzen, der neben ihm auf der Bühne stand. Alles lief zunächst nach Plan, doch als der Ausdruck anstand, schwieg der Drucker. Stattdessen begann eine kleine weiße Tonne namens Turtle wirr auf der Bühne hin und her zu fahren – jemand hatte den Druckeranschluss und den Kabelanschluss für den von MIT-Forscher Tom Callahan gebauten Roboter vertauscht. Turtle verarbeitete die Druckerbefehle.

Dennoch beeindruckte die Demonstration die Anwesenden nachhaltig. Dies gilt auch für die erste europäische Netzanschaltung: Am 10. September 1973 zeigten Vint Cerf und Bob Kahn, letzterer neuer Leiter der ARPA an der Universität von Sussex in Brighton, wie sie sich auf einem Computer im fernen USA einloggten und einander eine E-Mail schrieben.

Die wichtigen Entwicklungsdaten schrieb Vint Cerf 1999 auf der Geburtstagsfeier des Internet auf.

(Bild: Detlef Borchers)

Als Forschungsnetzwerk gestartet, hatte das Arpanet von Beginn an eine recht egalitäre Struktur, in der alle beteiligten Informatiker die Ideen anderer kommentieren konnten. Der Prozess wurde durch einen „Request for Comment“ (RFC) eingeleitet, der zunächst per Papier, später per E-Mail zirkulierte.

Mit dem RFC 1 vom 7. April 1969 begann Steve Crocker das Verfahren, indem er unter dem Titel „Host Software“ die angedachte Funktionsweise beschrieb, wie ein Host-Computer mit dem IMP kommuniziert und ihm zugedachte Nachrichten zusammensetzt.

Crocker wurde Leiter der Network Working Group im Arpanet, die sich 1971 bis 1972 daran machte, die Funktionsweise der IMPs von BBN als Software-Stack nachzubauen, der direkt in ein Host-Betriebssystem integriert werden kann. Auf diese Weise entstand das Network Control Protocol (NCP), das nach und nach von vielen Hosts übernommen wurde. Es ermöglichte, dass erste Internet-Anwendungen geschrieben werden konnten.

Doch NCP wurde unter der Prämisse entwickelt, dass die korrekte Übermittlung der Daten durch die IMPs gewährleistet wird, das Arpanet selbst also fehlerfrei ist. Sollte das Netz weiter wachsen und Übergänge zu anderen Netzen ohne IMPs an den Nodes gestatten, musste ein fehlerkorrigierendes Protokoll her. Die größte Diskussionsflut und IT-mäßige Übersetzung besorgte im Jahre 1974 RFC 675, mit dem bis zum Dezember 1974 TCP/IP spezifiziert wurde. Vint Cerf machte sich zusammen mit Ray Tomlinson und Peter Kirstein daran, mit TCP/IP eine Lösung für ein Netz-zu-Netz-Protokoll zu entwerfen, das fehlertolerant den Ausfall eines Kommunikationsknotens verkraftet. Innerhalb eines Jahres entwickelten die drei Teams drei Versionen von TCP/IP, die interoperabel waren.

Bob Kahn hatte nach der Demonstration in Großbritannien mit Überlegungen begonnen, wie ein internationales Netzwerk aussehen könnte, das Kontinente überbrückt. Auch mobile Netze zu beweglichen Computern gehörten zu seinen Zukunftsplänen. Ab 1973 finanzierte ARPA den SATNET-Versuch. Dabei wurde über einen speziellen Terminal Interface Processor (TIP) eine Satellitenverbindung mit 9,6 kBit/s zu seinem Gegenstück in Großbritannien aufgebaut und die Daten via Glasfaser zum norwegischen Forschungsnetzwerk NORSAR weitergeleitet. Hier unterhielt die ARPA eine Außenstelle zur Messung von Erdbeben und Atombombenversuchen. Ein weiterer Versuch trug den Namen PRNET, abgeleitet von der Funktechnik Packet Radio. Schließlich war absehbar, dass Computer bald in einen Transporter passen würden und mobil werden.

Neben der eigentlichen Spezifikation und der Entwicklung von TCP/IP wurde somit der 22. November 1977 zum großen Tag, weil über einen „Mobilcomputer“ in einem Van via PRNET eine Verbindung zum Arpanet hergestellt wurde, die Kommunikation via SATNET nach London wanderte und von dort weiter nach Norwegen. Für viele Techniker wie etwa Vint Cerf war dieses experimentelle Dreier-Netzwerk die eigentliche Geburtsstunde des weltumspannenden Internet.

Während die direkt geschickten Kontrolldaten knapp 650 Kilometer reisten, legten die Daten im TCP/IP-Experiment 153.000 Kilometer zurück. Über die Nachricht oder die Datei, die durch drei unterschiedliche Netze wanderte, gibt es keine Angaben. In der Erinnerung von Vint Cerf war es eine Parodie auf die Mondlandung anno 1969, irgendetwas mit kleinen und großen Schritten. Das Experiment erbrachte jedenfalls den Nachweis, dass TCP/IP im großen Stil funktioniert.

Die große Umschalte wurde schließlich auf den 1. Januar 1983 gelegt und mit RFC 801 beschrieben. An diesem Tag wurde NCP abgeschaltet und durch TCP/IP ersetzt. Das Arpanet wurde so zum Internet umgestaltet.

Wie viele Host-Rechner von der Aktion betroffen waren, ist unklar – die Zahlen schwanken zwischen 200 und 400 Hosts. Die beteiligten Systemadministratoren bekamen eine Anstecknadel: „I survived the TCP/IP transition.“

Dass TCP/IP ein Riesenerfolg werden würde, war beim großen Switch nicht abzusehen. Neben den Forschern im Arpanet und Milnet, dem militärischen Teil des Arpanets, gab es erhebliche Anstrengungen von Konzernen wie AT&T, 1983 einen eigenen Paket-Datendienst namens Accunet anzubieten. AT&T wurde jedoch von der US-amerikanischen Regulierungsbehörde FCC ausgebremst. Sie befand 1985, dass AT&T als Telefonkonzern seine Monopolstellung bei Sprachdiensten unzulässig benutze, um kostengünstig Datendienste anbieten zu können. Ähnlich erfolglos bot IBM sein SNA und Xerox das XNS an.

In Europa stieß TCP/IP auf ganz andere Vorbehalte. Universitäten, IT-Firmen und Regierungen forcierten ein „Eurosinet“ auf Basis des OSI-Standards (Open System Interconnection) mit X.400 als Mail-Standard.

Nach dem Morris-Wurm ging es erst richtig los. Die Zahl der ans Internet angeschlossenen Rechner explodierte.

(Bild: Bericht der Weltbank von 1997)

Ab Mitte der 70er-Jahre entstanden weitere Netze nach dem Vorbild des Arpanet, zunächst das MFEnet (Magnet Fusion Energy) und das HEPNet (High Energy Physic) des US-amerikanischen Energieministeriums. Die Weltraumbehörde NASA folgte mit SPAN, dem Spaca Analysis Network, und das CSNET wurde geschaffen, um kommerzielle wie akademische Forschung im Bereich der Computer Science zu vernetzen. Während diese Netze für bestimmte Nutzergruppen errichtet wurden und zuvorderst die Anwendungen Telnet und E-Mail bedienten, entwickelte sich ab 1980 ein völlig anderes Konzept, bedingt durch die Integration von TCP/IP in BSD Unix und dem frei verfügbaren AT&T Unix.

So entstand 1979 das Usenet mit seinen Newsgroups nach einer Idee von Steve Bellovin und Jim Ellis als Alternative zur Arpa/Internet-Vernetzung. Die Unix-Computer nutzten Telefonleitungen und übertrugen Dateien mit dem UUCP-Protocol. Erwähnenswert auch das BITNET (Because It’s Time NETwork) nach einer Initiative von Ira Fuchs und Greydon Freeman. Dieses Netz verlinkte Universitäten aller Art und richtete sich nicht an bestimmte Forschergruppen.

Die Idee, dass das Netz allen Wissenschaftlern und Studenten auf jedem Campus der westlichen Welt zur Verfügung stehen sollte, wurde 1984 zuerst bei der Konzeption des britischen JANET und 1985 bei der Einrichtung des US-amerikanischen NSFnet formuliert. Bei der National Science Foundation (NSF) als Nachfolgerin der ARPA war die Nutzung von TCP/IP obligatorisch.

Bei der Kommerzialisierung des Netzes spielten Suchmaschinen eine wichtige Rolle.

(Bild: Detlef Borchers)

Während alle Netze explosionsartig wuchsen, wurde deutlich, dass das Verzeichnis aller verfügbaren Rechner nicht länger lokal gespeichert werden kann. Paul Mockapetris erfand 1983 das Domain Name System (DNS) als offenes Adressbuch des Internets. Mit RFC 985 wurde durch die NSF die Technik der Internet Gateways standardisiert. Die NSF veröffentlichte 1985 eine Acceptable Use Policy (AUP), die die Nutzung der großen Backbones für Anwendungen „not in support of research and education“ strikt untersagte. Dies sollte privaten Unternehmen ermöglichen, mit eigenen Backbones kommerzielle Netzdienstleistungen zu verkaufen.

In einer Serie von NSF-Konferenzen unter dem Titel „Privatization and Commercialization of the Internet“ wurden Geschäftsmodelle mit interessierten Unternehmen diskutiert. In rascher Folge entstanden kommerzielle Internet-Provider wie PSI oder UUNET, während sich Telefongesellschaften wie MCI zu Providern umbauten. 1988 berief die NSF ein Expertengremium unter Vorsitz von Leonard Kleinrock, das einen Report unter dem Titel „Towards a National Research Network“ veröffentlichte. In dem Papier tauchte erstmals der Begriff „information superhighway“ auf, der unter dem Präsidentschaftskandidaten Al Gore eine rasante Karriere machte.

Selbst der deutsche DFN-Verein schwärmte in seinen Papers von der „European Data Autobahn“, freilich nach dem OSI-Standard. Als das Expertengremium unter Kleinrock im Jahre 1994 einen weiteren Report unter dem Titel „Realizing the Information Future“ veröffentlichte, empfahl es dem NFS, die Finanzierung der Backbones einzustellen und das Internet kommerziellen Unternehmen zu überlassen. Das geschah im April 1995. Von 1986 bis 1995 hatte die NSF 200 Millionen US-Dollar für die Entwicklung des Netzes ausgegeben.

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Der Morris-Wurm

Mit der Vernetzung durch das Arpanet konnten nicht nur Informationen über Datennetze wandern und verteilt werden, sondern auch Programme. Weil sie sich rasend schnell vermehren konnten, wurden sie zunächst Rabbits getauft. Bei der Frima Bolt, Beranek und Newman (BBN), die die IMP-Rechner (Interface Message Processor) bauten, schrieb der Programmierer Bob Thomas das Demonstrations-Programm Creeper. Es kopierte sich im Arpanet von Rechner zu Rechner und verschickte die Nachricht: „I’m the Creeper, catch me if you can!“ Unglücklicherweise reiste der Creeper ohne Beendigungsfunktion immer weiter durch das Netz und so wurde ihm ein Lösch-Programm namens Reaper hinterhergeschickt.

Mit einer Diplomarbeit an der Universität Dortmund wurde im Jahre 1980 erstmals der Begriff „Computervirus“ für selbstreproduzierende Programme geprägt. Der Informatik-Student Jürgen Kraus verglich die Computerviren mit biologischen Viren, die sich durch Mutation weiter verbreiten, was durch Fehler im Betriebssystem oder in anderen Programmen zur Verbreitung dieser „Lebensform“ führen kann.

Ein solcher Fehler, eine Lücke im „sendmail“-Programm von BSD-Unix Version 4.3., wurde im November 1988 vom US-amerikanischen Informatik-Studenten Robert Morris Jr. ausgenutzt, um ein Programm zu schreiben, das sich im Internet und angeschlossenen Netzen verbreitet und die Host-Tables, die lokalen Datenbanken der angeschlossenen Host-Computer, auswertet. Morris wollte mit seinem „Wurm“ ermitteln, wie groß das Netzwerk eigentlich ist. Als er das Programm am 2. November startete, bemerkte er erst nach dem Essen, dass ihm ein Fehler unterlaufen war. Statt sich nur einmal zu kopieren und diese Kopie zum nächsten Computer zu schicken, kopierte sich das Programm wieder und wieder, infizierte weitere Computer und kopierte sich auf ihnen immer wieder. Insgesamt wurden 6000 Computer befallen und waren so mit dem Morris-Wurm beschäftigt, dass sie keine Warnung vor dem Programm verarbeiten konnten. Die Nachricht von der landesweiten Computerstörung verdeutlichte den erstaunten US-Amerikanern und auch den interessierten Europäern, wie weitreichend die Vernetzung von Rechnern via TCP/IP bereits gediehen war.

Wie groß der Schaden war, konnte nicht eindeutig geklärt werden. Keineswegs war das Internet komplett zusammengebrochen, denn längst nicht alle Host-Computer verwendeten das BSD-Unix, das auf den Vaxen von DEC und den Rechnern von Sun weit verbreitet war. Zudem gab es auch Vaxen und Suns, auf denen die Sendmail-Lücke bereits geschlossen worden war. Doch die Idee, dass ein Computer-Netzwerk eine schützenswerte kritische Infrastruktur darstellt, war in der Welt.

Robert Morris Jr. wurde 1990 zu einer dreijährigen Bewährungsstrafe und 400 Stunden sozialer Arbeit verurteilt. Hinzu kamen die Kosten für das Gerichtsverfahren, rund 150.000 Dollar und eine Geldstrafe von 10.000 Dollar. Ihm wurde angerechnet, dass er versucht hatte, den Wurm zu stoppen, als er seinen Fehler erkannte. Heute ist Robert Morris ein angesehener Informatik-Professor am MIT, der durch eine Blitzkarriere in der Dotcom-Blase zudem reich wurde: Er verkaufte ein Programm zum Basteln von Online-Shops an Yahoo für 49 Millionen Dollar.

Dieser Artikel stammt aus c't Retro 2019. (hag)