Hilft "kaputte" AgilitÀt?
AgilitÀt in der Softwareentwicklung wird oft unzureichend umgesetzt und gelebt. Hilft sie trotzdem?
- Eberhard Wolff
AgilitÀt in der Softwareentwicklung wird oft unzureichend umgesetzt und gelebt. Hilft sie trotzdem?
Softwareentwicklung ist kompliziert und komplex. Deswegen fĂŒhren viele Projekte zu FehlschlĂ€gen. Es ist schon schwer genug festzustellen, ob ein Projekt erfolgreich war oder nicht. Die Ziele sind gegebenenfalls nicht klar definiert, aus politischen GrĂŒnden können FehlschlĂ€ge zu Erfolgen umdefiniert werden und schlieĂlich gibt es verschiedene Parameter, nach denen Erfolg bewertet werden kann. Subjektiv scheint der Anteil der Projekte, die eines oder mehrere der Projektziele nicht erreichen, durchaus signifikant zu sein.
Chaos-Report
Eine schon lange etablierte Untersuchung ĂŒber den Erfolg von Projekten ist der Chaos-Report der Standish Group. Er stellt seit 1994 Erkenntnisse ĂŒber IT-Projekte zusammen. Er verfĂŒgt ĂŒber eine Datenbasis von ĂŒber 20 Jahren und ĂŒber 50.000 Projekten. Die Analysten bewerten die Projekte, sodass die Bewertung als Erfolg oder Misserfolg nicht auf den subjektiven EindrĂŒcken der am Projekt Beteiligten basiert. Der Report aus dem Jahr 2015 ist kostenlos erhĂ€ltlich. Er zeigt, dass schon seit mehreren Jahren circa 20 Prozent der Projekte FehlschlĂ€ge sind. Etwa 40 Prozent haben nicht alle Ziele erreicht und weitere 40 Prozent sind erfolgreich. In Kategorien wie Einhalten des Zeitplans, der Kosten oder der Termine erreichen zwischen 40 und 60 Prozent die Ziele nicht. Laut dem Report reduziert AgilitĂ€t diese Zahlen erheblich, teilweise auf die HĂ€lfte.
Diese Zahlen kann man sicherlich kritisieren: Erfolg ist kaum objektivierbar. Lange hat der Chaos-Report als Erfolgskriterien Budget, Scope und Zeit definiert. Agile Projekte können aber vorab keinen vollstĂ€ndigen Scope definieren, sondern planen nur das nĂ€chste Inkrement. Also können echte agile Projekte einen Scope nicht erfolgreich einhalten, weil er am Anfang des Projekts unbekannt ist. Das wirft die Frage auf, wie sich die Einhaltung des Scopes dann ĂŒberhaupt bewerten lĂ€sst, wenn die Projekte tatsĂ€chlich agil sind.
Das Bessere ist der Feind des Guten
Wegen dieser WidersprĂŒche kann es gut sein, dass die "agilen" Projekte aus dem Chaos-Report zwar einige Praktiken umsetzen, aber nicht alle. Aber auch aus anderen GrĂŒnden sind Zweifel daran angebracht, ob die "agilen" Projekte wirklich agil sind. So gibt es viele MissverstĂ€ndnisse in diesem Bereich. Viele Projekte nennen sich agil, obwohl sie in Wirklichkeit teilweise fundamentale Konzepte nicht umsetzen. Die agilen Projekte aus dem Chaos-Report sind also wahrscheinlich eher Projekte, die eine "kaputte" Version von AgilitĂ€t umsetzen. Positiv ausgedrĂŒckt: Sie haben angefangen, AgilitĂ€t zu adaptieren, aber haben noch lange nicht alles Wichtige umgesetzt. Da AgilitĂ€t ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess sein sollte, ist die Adaption von AgilitĂ€t eigentlich nie vollstĂ€ndig abgeschlossen, aber auch dieser wichtige Aspekt wird oft nicht befolgt.
Wenn es tatsĂ€chlich so sein sollte, dass die "kaputte" Umsetzung agiler Mechanismen bereits erhebliche Verbesserungen bei den Projektergebnissen ergibt, dann ist dieser Weg wirtschaftlich auf jeden Fall sinnvoll. Man könnte sogar die Frage stellen, welchen weiteren wirtschaftlichen Vorteil die vollstĂ€ndige und korrekte Umsetzung von AgilitĂ€t ergibt. FĂŒr solche wirtschaftlichen Vorteile gibt es aber durchaus gute Indizien. Aber die Umsetzung vollstĂ€ndiger AgilitĂ€t â und vor allem der agilen Werte â könnte aufwendig sein, ohne dass es dafĂŒr einen entsprechenden wirtschaftlichen Vorteil gibt. Dann könnten die teilweise sehr schlecht umgesetzten agilen Prozessen bezĂŒglich der Kosten-Nutzen-AbwĂ€gung wirtschaftlich nahezu optimal sein, weil sie relativ leicht zu erreichen sind und bereits erhebliche Vorteile bieten.
Um es mit Voltaire zu sagen: Das Bessere â also "echte" AgilitĂ€t â ist eben der Feind des Guten â also "kaputte" AgilitĂ€t. Man wird also eine weitere Verbesserung nur erreichen, wenn man sich nicht mit etwas zufrieden gibt, das bereits ausreichend gut ist. In der Folge könnten kaputte agile Prozesse ein Dauerzustand werden. Das mag zwar wirtschaftlich sinnvoll sein. Aber es sind nur bedingt positive Aussichten, weil "kaputte" Prozesse demotivieren und oft gerade Werte und Kultur leiden â und darunter leiden dann oft auch Menschen. Hoffen wir also, dass es nicht so ist.
tl;dr
Wenn "kaputte" AgilitÀt schon deutliche Vorteile bringt, erklÀrt das, warum die Prozesse oft kaputt sind und warum sie nicht noch weiter verbessert werden.
Vielen Dank an meine Kolleginnen und Kollegen Anja Kammer, Martin KĂŒhl und Hanna Prinz fĂŒr die Kommentare zu einer frĂŒheren Version des Artikels. ()