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  • Heisasa

mehr als 1000 Beiträge seit 22.10.2004

Ermittlungsakten als Militärstaatsgeheimnis? Zusammenfassung in Excel-Tabellen?

Die Franzosen verweigern Anwälten die Einsichtnahme, indem sie ihre Daten einfach als „Militärstaatsgeheimnis“ deklarieren. Das deutsche BKA verweigert Anwälten die Einsichtnahmein in die Akten mit der Begründung, das könne laufende und zukünftige Ermittlungsverfahren gefährden und die Akten seien für das angefragte Verfahren „irrelevant“.

Gleichzeitig erstellen Ermittlungsbeamte aus unterschiedlichen Quellen schöne Excel-Tabellen mit kompletten Chatverläufen als Auswertungsergebnis, aus denen wiederum nicht hervorgeht, welche Daten aus welchen Endgeräten stammen, ob diese Unterhaltungen so und wann stattgefunden haben, und ob das überhaupt komplett ist. Denn kein Endgerät hat eine vollständige Kommunikation gespeichert, sondern nur einen Teil.

Die 25. Kammer des LG Berlins hatte im Beschluß vom 01.07.2021 – (525 KLs) 254 Js 592/20 – ein Beweiserhebungsverbot erhoben und dafür eine triftige Begründung: „Zum Zeitpunkt der Anordnung und Durchführung gab es keinen Tatverdacht gegen die Nutzer der Endgeräte, der die Überwachung gerechtfertigt hätte.“

Auf Anruf der Staatsanwaltschaft kassierte das Kammergericht mit Beschluß vom 30.08.2021 (das ging aber flott!) – 2 Ws 79/21 – die Entscheidung des LG und begründete die eigene Entscheidung im wesentlichen damit, daß in Frankreich rechtsstaatliche Prinzipien herrschen würden, der Hack durch ein französisches Gericht genehmigt wurde und hierdurch deutsche Gerichte nicht (mehr) umfänglich nachprüfen dürften/könnten.

Neben dem OLG Brandenburg, Beschl. v. 16.12.2021 – 2 Ws 197/21 – „Ein zu einem Beweisverwertungsverbot führender Verstoß gegen wesentliche Grundsätze der deutschen Rechtsordnung liegt nicht vor (§ 73 Satz 1 IRG).“ schlossen sich dieser Meinungen zig andere Oberlandesgerichte an (OLG Bremen, Beschl. v. 18. Dezember 2020 – 1 Ws 166/20; OLG Hamburg, Beschl. v. 29. Januar 2021 – 1 WS 2/21 - 7 OBL 3/21; OLG Schleswig, Beschl. v. 29. April 2021 – 2 Ws 47/21; OLG Rostock, Beschl. v. 23. März 2021 – 20 Ws 70/21, jeweils zitiert nach Juris).

Nach rechtsstaatlichen Prinzipien sollten alle Gerichte aber gehalten sein, die Frage nach der Herkunft und Nachvollziehbarkeit der „Excel-Chats“ zu stellen. Offenkundig überwiegt aber die Meinung, (Achtung: Ironie) als hätten sich die Gangster per Teamviewer auf dem Encochat-Server getroffen und ihre kriminellen Geschäfte über MS Excel ausgetauscht und später fein säuberlich abgespeichert. Im Gegenteil: es sind längst nicht alle Daten entschlüsselt worden, wie ein BKA-Beamter vor Gericht aussagte. Wie will der Beamte mit Sicherheit ausschließen können, daß sich dort nicht entlastendes Material befinden kann?

Nach deutschem Recht ist es auch nicht möglich, erst schön Daten „ins Blaue hinein“ zu sammeln oder „übermittelt zu bekommen“ (durch französische Behörden), um dann mal Menschen und deren Daten daraufhin auszukundschaften, ob sie denn was verbrochen haben. Also wir verletzen mal eben Grundrechte von jemanden, um mal ein bißchen zu erfahren. Und wenn wir was finden, dann eröffnen wir mal ein Ermittlungsverfahren…

Nach deutschem Recht, dem auch die deutschen Ermittlungsbehörden und Gerichte unterworfen sind, muß gegen eine bestimmte Person ein konkreter Tatverdacht vorliegen, um dann ein Ermittlungsverfahren zu eröffnen und im Rahmen dessen weitere Überwachungsmaßnahmen anzuordnen.

Die Daten sind auch kein „Zufallsfund“, mit dessen Argumentation sich einige Gerichte eine Verwertbarkeit begründen. Denn die Daten („Excel-Chats“) wurden nicht „zufällig“ vom BKA auf dem Encrochat-Server gefunden, sondern vielmehr von den französischen Behörden mit dem Hinweis übermittelt, da doch mal tieferzugraben.

Fazit: Was ist der „Rechtsstaat“ noch wert, wenn
1) Grundrechte verletzt werden, nur um vielleicht mal was zu finden,
2) lediglich ein befreundeter „Rechtsstaat“ die Daten schon irgendwie legal erhoben haben wird, (sog. „Befugnis-Shopping“),
3) gegen Strafgesetze verstoßen und hinterher ein Verfahren gegen Personen eröffnet wird, die vorher noch gar nicht verdächtig waren,
4) Verteidigern mit lieblosen „Begründungen“ Akteneinsicht verweigert und letztlich das Recht auf Nachvollziehbarkeit und Einbringen von entlastendem Material verweigert wird,
5) bearbeitete Zusammenstellungen von Gesprächen („Excel-Chats“) von Richtern nicht hinterfragt, sondern quasi als Tatsache betrachtet werden.

Ich kann, wie es ein Verteidiger ausdrückt, EU-Recht anwenden um damit die Krümmung von Bananen zu rechtfertigen – aber nicht, um den Jahrhunderte alten Grundsatz im Strafrecht „in dubio pro reo“ auszuhebeln.

In naher Zukunft werden sich daher die höchsten Gerichte mit dem Fall Encrochat beschäftigen: Der französische Kassationshof hinterfragt die Herkunft der Daten, vor dem EuGH stehen die Klagen zweier Briten zur Verhandlung an, und auch das Bundesverfassungsgericht wird sich mit dem Thema auseinandersetzen müssen.

Material:
https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2022/02/17/der_hack_von_encrochat_ermittlungscoup_oder_verstoss_gegen_dlf_20220217_1840_c644e808.mp3
https://www.deutschlandfunkkultur.de/encro-chat-hack-ueberwachung-daten-100.html
https://www.deutschlandfunkkultur.de/encrochat-hack-ermittlungscoup-oder-gefaehrliche-massenueberwachung-feature-dlf-kultur-54ac29de-100.html

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (19.02.2022 01:31).

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