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  • Mov Faltin

mehr als 1000 Beiträge seit 11.12.2013

Wunderbar!

Ein wunderbar geschriebener Nachruf, danke.

Ich übersetze mal kurz das Gedicht:

Es ist eine anmutige Erniedrigung, die strotzt vor nicht begangnen Pfaden,
Überladen mit Taylors einem besten Weg,
Mit allem Eifer des Monotheisten,
Wo Schumpeter anschubst und Kondratiew sich windet und Gladwell punktet,
Alle der Singularität dicht im Genack.
Beobachte die merkwürdigen Phyla, wie sie ihren Machern nachsetzen.
Auch sie können gehen, ernähren, reden und -- so sagt mancher -- denken.

Wir erschaffen Apparate, und dann erschaffen sie uns.
Narzissen starren wir in ein Meer der Technologie und sehen uns selbst.
Wir fügen uns in unseren eigenen Niedergang, brechen als Teilnehmer auf
Und verwandeln uns in Opfer.
Die Diagnose ist ernst: einer rapide sich ausgebreiteten Spezies Verlust der Traute,
Implizites Wissen wird erniedrigt, derweil propositionales Wissen ehrvoll gilt.
Wer bedarf der Phantasie, wenn Fakten sind?

Eine den Menschen erhebende Symbiose unbeachtet,
Derweil eine gefährliche Annäherung rasch fortschreitet,
Da menschliche Wesen das Leben Maschinen übertragen und in diesem Tun sich selbst schwächen.
Dein Kalkül mag großartiger sein als sein Kalkül,
Aber wird es den Sullenbergerschen Hudson-River-Test bestehen?
Inzwischen wird das Virtuelle mit dem Tatsächlichen verwirrt
-- Da Eltern das virtuelle Kind mit Aufmerksamkeit überschütten,
Derweil ihr wahres Kind an Vernachlässigung und Hunger stirbt.

Potential und Realität werden auseinandergerissen, da Wandel mit Fortschritt verwirrt wird,
Mit flacher Kenntnis tiefer Themen
-- Du fährst fort mit gegenwärtig gespannter Technologie,
Die Vergangenheit auslöschend und mit bereits hypothekenbelasteter Zukunft.
Das Gericht der Geschichte mag Dich für vergiftet befinden mit der Spezies-Arroganz, rücksichtslos fortzufahren ohne Hippokratischen Eid.

Inzwischen ist der Entfähiger entfähigt, da ein Tsunami der Technologie unsere Grundfesten erschüttert. Der multinationale Apologet verkündet feierlich:
»Wir sollten die Traute besitzen, unseren wahren Platz in der evolutionären Rangordnung einzunehmen -- nämlich Tiere, Menschen und Systeme der Postsingularität.«
Nun verdunkelt sich der Himmel vor Tauben, die aufzupicken kommen, was gesät ward,
Und die Minenvögel fallen unbeachtet von ihren Stangen.

Der ferne Laut wird stärker.
Ist es die lebensbejahende Energie von Riverdance, oder sind es die klackernden Hufe der Apokalyptischen Reiter?
Die Musik da, ist das die »Ode an die Freude«, oder ist es die »Götterdämmerung«?
Da sich die Umarmung zu vornehmem Erdrosseln verengt -- wird der Verführer in letzter Täuschung ins Ohr hauchen »Soll ich vergleichen Dich dem Sommertag?«

So ungefähr. Keine besondere Tiefe, bloß ein paar Anspielungen dabei, und ein paar Wortspiele, die ich auf die Schnelle nur notdürftig eingedeutscht habe.

Daher eine kurze Anmerkung: Es fängt an mit »paths not taken«, das dürfte sich auf ein Gedicht von Robert Frost beziehen. Dann kommen die Wirtschaftstheoretiker Schumpeter und Co. Dann kommt das Wortspiel mit dem »pool of technology« mit der spiegelnden Oberfläche. Danach kommt der Sullenberger ins Spiel; das war, wenn ich mich recht erinnere, vor ein paar Jahren der Heldenpilot, der seine Maschine auf dem Hudson River runtergebracht hat, ohne Opfer. Die »present tense technology« habe ich auch als Wortspiel gelesen, also als »present technology« und »tense technology« (wegen des Bindestriches, der sonst drin wäre, und wegen der unnötigen Erwähnung des »tense«, falls das i.S.v. »present-tense technology«=»present technology« gemeint wäre -- allerdings bin ich mir nicht sicher, denn die Schreibweise ohne Bindestrich wird konsequent eingehalten im Text, etwa bei »post singularity systems«). Dann das Wortspiel »[chickens] come home to roost«, nur halt mit Tauben. Ich habe versucht, da einigermaßen im Bild zu bleiben und das sinngemäße »ernten, was man sät« einzuflechten. Finalmente ein paar Musikanspielungen und noch einmal das wahrscheinlich altbekannte Sonett 18 des Shakespeare. Leider nicht viel zu interpretieren. Und leider formal auch nicht besonders reizvoll -- kein Spiel mit der Metrik, kein Akrostichon oder sonstige Stilformen, die zum Verweilen und Analysieren einladen. Dennoch schön, irgendwie.

Das mit vergessenem Handwerk ist übrigens ein mittlerweile häufig bemühtes Bild. Ich erinnere mich noch an das Werk »After Virtue« von Alasdair MacIntyre, an dessen Anfang er dieses Bild bezogen auf die Moral bemüht: Die Menschheit drohe die Moral zu verlernen. So ganz falsch scheint mir das bei vielen modernen Anwandlungen nicht zu sein.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (21.09.2020 03:46).

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