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  • Mov Faltin

mehr als 1000 Beiträge seit 11.12.2013

Von alyrischen Merkversallüren

Diese Woche wurde Döpfner mit einem weiteren Satz über den von ihm geschassten Chefredakteur Julian Reichelt bekannt, der "der letzte und einzige Journalist in Deutschland [ist], der noch mutig gegen den neuen DDR-Obrigkeitsstaat aufbegehrt. Das Merkelverse als neuen DDR-Obrigkeitsstaat zu bezeichnen, ist ein starkes Stück. Daran ändert auch die Empörung über eine "Grenzüberschreitung" nichts, weil angeblich aus einer privaten SMS-Kommunikation zitiert. Zu seinem Verlag gehört ein Schmierblatt, das ungeniert einen WhatsApp-Chat eines 11-Jährigen veröffentlichte, dessen vier Geschwister von der eigenen Mutter ermordet worden waren.

Ich bin mir recht sicher, dass das ein Fehlzitat ist. Döpfner hat das Wort »Merkelverse« sicher nicht so in den Mund genommen. Hätte der Springerdamenturmkönig um einen Neologismus jener Art geschachert, hätte er -- meiner bescheidenen Einschätzung zufolge -- wohl eher »Merkelversum« aufgeboten. Was natürlich nicht ganz so schön wäre, weil es sich nicht gar so dolle reimt wie irgendwas mit »verse« (sprich: wörs) -- und etwas schade, weil es nicht zum Merkvers taugt.

Apropos Merkvers: Eck-, hinter- oder gar mehrsinnige Ausdrücke sind bei Springer ohnehin nicht drin, seit die Verlagsführung sich zeitweilig ins und aufs Siliziumtal verlegte. Stattdessen wurde der Restanspruch erst eingedampft zugunsten planer Platitüden und platter Planetüden, nur um dann doch wieder etwas Versengeld zu geben, und zwar diesmal für die notdürftig abdeckenden Abdichtungen des immerhin mindestens hundertmal so tiefgründigen Netzmagazins Politico. Das freilich auch bisher nur selten erhabenen Journalismus bringt, aber immerhin ab und an.

In den Verlagszentralen Springers, die den Hipstern nach Berlin und freilich auch in die Sozialen Medien gefolgt sind, stehen und hängen zur Vorbereitung auf derlei Akquisen einerseits und andererseits auf die Einstimmung zur Abkehr von kleindeutscher Spießigkeit des Springerverlages, hin zur großamerikanischen Spießigkeit desselben, jede Menge dessen herum, was man im Silicon Valley augenscheinlich als Kern des Fortschritts ausgemacht hat: Nicht bloß Applerechner, sondern Schilder und Drucke und Aufkleber. Mit Buzzwords in Kleinbuchstaben, mit kreischenden Hintergrundfarben und auf Denglisch gehalten, mit den Aufschriften »welcome«, »empower free decisions«, »approachable« oder »bold« -- in Fettschrift, logo. Und auf der YouTube-Seite der Axel Springer SE finden sich prominent plaziert Videos, welche »diversity« beschwören und abfeiern. Das klingt nun gar nicht nach der Bildzeitung, welche ja ein konservatives Moment bemüht. Nun kann ein Periodikum freilich immer von einer Verlagslinie abweichen -- aber die Bildzeitung und Springer waren politisch bisher weitgehend analog eingestellt, und es gibt eine klare ubiquitäre Einflussnahme des Verlages auf journalistische Inhalte -- alleine schon am Beispiel der Israelklausel zu ersehen. Es sieht also so aus, als flattere das Verlagsfähnchen derzeit im Winde des Opportunismus -- dort, wo progressive Stimmen laut sind, gibt man sich progressiv -- und dort, wo konservative Stimmen unterwegs sind, gibt man sich konservativ.

Das kann freilich auch einer Phase der Identitätsfindung geschuldet sein -- oder eben der Unsicherheit oder Unbedarftheit: Einfache pauschale Verhaltensnormen und Faustregeln sind schließlich der Keil des Minderbemittelten: Wer aus Gründen persönlicher Defizite nicht imstande ist, informierte und sinnvolle Einzelfallabwägungen zu treffen, hält sich am besten an Stereotype und verallgemeinerte Normen. Dann muss er nicht mehr moralisch urteilen, dann muss er nicht mehr fundiert einschätzen, dann braucht er keinen Kontext und kein Wissen mehr, dann kann er sich einfach treiben lassen von Emotionen. Und dann braucht er sich keine Gedanken mehr zu machen darüber, ob etwas tatsächlich falsch war oder nicht -- das stereotypische Genügen nimmt ihm diese Kognition ab und vermittelt ihm den Eindruck, Fehler stets zu vermeiden.

Solche supersimplen Verhaltensnormen haben also durchaus ihre Berechtigung. Und zwar genau unter denen, die unfähig sind zu eigenständigem moralischen Denken und Handeln, unfähig zu eigener Urteilsbildung. Solche Normen haben ihre Berechtigung also vor allem bei den Unfähigen.

Nun kommt da leider hinzu, dass ein jeder Mensch -- aus recht komplexen epistemologischen Gründen -- von sich selbst auf andere zu schließen scheint. Wer sich selbst also -- gerechtfertigterweise, weil er es aufgrund idiosynkratischer Beschränkungen nicht besser könnte -- einem solchen Stereotypenregime unterwirft, wer folgerichtig erkennt, dass es hilft, keine Fehler zu begehen, anderen nicht wehzutun, der wird die Forderung erheben, auch andere müssten einem solchen, wenn nicht gar demselben, Regime folgen. Die kognitive Beschränktheit, die dazu führt, bloß standardisierte Kochrezepte anwenden zu können anstatt jeweils selbst abzuschmecken, die Präsenz einer solchen »cognitive convenience« schränkt dabei gleichermaßen habituell wie auch strukturell allerdings die Wahrscheinlichkeit eines Einsichtsvermögen ein, dass das Befolgen solcher Regimes eben nicht sinnvoll überallhin pauschalisiert werden könne.

Und damit wären wir ausgehend von den Springern jetzt beim einfachen Bauernmob mit seinen Fackeln und Mistgabeln angelangt -- und seiner Rastersicht der Welt. Aber vielleicht, vielleicht ist das alles zu sehr theoretisiert. Also ab an die Praxis:

==

Die Mischkulanz -- eine kurze Dialogabfolge mit Claire, Heinz, Robert und Stefan.

--

»Heinz, weißt Du, ich muss Dir etwas gestehen.«
-- »Au weia, Stefan, das hört sich schon mal nicht gut an. Aber Du kannst mir vertrauen.«
-- »Gestern, beim Wanderausflug mit der Familie, da habe ich… da habe ich mich geoutet.«
-- »Ge…was? Geoutet? Sag bloß, Du bist schw… Du bist hom… Du stehst auf… Du bist sexuell wertvoll orientiert?«
-- »Sexuell wertvoll?«
-- »Ja, weißt Du, Du kannst mir da vertrauen, ich stehe voll hinter sowas. Das finde ich total gut!«
-- »Äh, was jetzt?«
-- »Na, dass es Leute gibt, die zu ihrer Sexualität stehen.«
-- »Ach, das hört sich so an, als würdest Du das nicht machen?«
-- »Hör mal, Stefan. Es geht doch nicht um mich. Sondern um diversity!«
-- »Ja? Klar, Diversität ist schon wicht…«
-- »Ich bin ja seit jeher ein Verfechtender für diversity! Ich sag auch immer 'LGBTQ+'. Ich bin da voll informiert. Du kannst mir da voll vertrauen, ehrlich.«
-- »Aha.«
-- »Ja, damit keine r diskriminiert wird.«
-- »Also, mir ist das jetzt nicht so…«
-- »Ihr Armen! Ich kann es ja selbst nicht ganz fühlen, weil es mich nicht betrifft -- aber glaube mir, ich habe vollstes Verständnis für Leute wie Dich.«
-- »Das ist net…«
-- »Ja, ich finde es gut, dass Mitmenschen ihr Coming-out haben. Weißt Du was, ich habe mir sogar auf meine Heckscheibe eine Regenbogenflagge geklebt. So sehr unterstütze ich Minderheiten! Ich bin da wirklich vertrauenswürdig.«
-- »Aber hast Du nicht die Monika erst vor ein paa…«
-- »Zur Sau gemacht? Aber da wusste ich doch nicht, dass sie eine Freundin hat. Sonst hätte ich mich nicht so über den Fehler aufgeregt!«
-- »Weil sie… weil sie lesbisch ist?«
-- »Ach, lesbisch, das musst Du jetzt nicht so toxisch formulieren. Weil sie ein bereicherndes Sexualinteresse hat.«
-- »Meine Fresse, Heinz. Bereichernd? Ich bin einfach nur bi.«
-- »Ach, also bi? Du stehst also doch auf Frauen?«
-- »Ja, und auf Männer.«
-- »Au weia. Das muss so schwer sein. Ich unterstütze alle, die bi sind. Und gay. Und lesbian. Und queer. Und trans. Und diverse. Und ich finde es toll, dass Leute so mutig sind und sich outen. Denen muss man versuchen zu helfen. Und ich bin da sehr engagiert. Und informiert. Und vertrauenswürdig. Ich bin vorbildlich in diversity.«
-- »Ja, aber…«
-- »Ich war sogar mal beim CSD auf einem Wagen oben. Für diversity!«
-- »Aber… ich bin doch…«
-- »Diverse bist Du. Und das ist gut so.«
-- »Nein, verdammt! Ich bin ich, Du Penner!«
-- »Ich kann so einen Frust gut verstehen. Es muss schwer sein, einer Minderheit anzugehören. Weißt Du, für sozial benachteiligte Leute habe ich immer ein offenes Ohr. Das sehe ich als meine Pflicht an, als Mitmensch.«
-- »Aber ich fühle mich gar nicht so, als…«
-- »Verständlich, verständlich. Hach, ich leide mit jedem r, der so fühlt. Aber ich bin mir sicher, dass solche Minderheiten mit gemeinsamer beherzter Untersatützung ihr Leben auf die Reihe bekommen.«
-- »Arschloch!«
-- »Äh… wie bitte? Wir wollen mal nicht toxisch sein, ja! Wobei, wenn ich's mir recht überlege: Ich nehme Dir das überhaupt nicht übel. Im Gegenteil: Es ist ja ganz selbstverständlich, bei den Lebensumständen, wenn Minderheiten sich einmal Luft…«

--

»Robert, ich, äh, ich wollte Dir noch was mitteilen, so unter Kollegen.«
-- »Jetzt? Eilt das? Na dann -- schieß los, Stefan…«
-- »Ich habe mich gestern vor meiner Familie geoutet. Und nun wollte ich das auch Euch gegenüber tun. Aber sag's am besten erst einmal nicht weiter…«
-- »…«
-- »Robert?«
-- »Bist Du schwul?«
-- »Jein. Bi.«
-- »Okay. Und? Beziehungsprobleme oder was?«
-- »Äh, warum?«
-- »Du hast so angefangen, als drückte Dich irgendwo der Schuh. Also, was gibt's für Probleme?«
-- »Äh. Ich bin bi.«
-- »Ja, und? Ich bin hetero. Binde ich auch nicht jedem auf die Nase. Wenn Du's ausbuchstabiert haben willst: Schön, wenn's Dir hilft. Und wenn irgendwas Besonderes sein sollte, weißt Du ja…«
-- »Danke.«
-- »Für was?«

--

»Robert, ich habe das vorhin mitangehört!«
-- »Öhm, was?«
-- »Das mit dem Stefan.«
-- »Was war denn mit Stefan, Claire? Heute morgen?«
-- »Ja. Du warst total unmöglich. So Leute können wir hier nicht brauchen. Wir pflegen eine Kultur der Diversität. Die Compliancevereinbarung hat auch jede r, der die hier arbeitet, unterschrieben. Wir sind ein fortschrittliches Unternehmen.«
-- »Ähm, Moment, ich stehe gerade auf dem Schlauch. Was war denn mit Stefan?«
-- »Leute wie der Stefan sind wertvolle Bereichernde unserer Firmenkultur!«
-- »Das kannst Du laut sagen, Claire. Er ist mein Lieblingskollege. Wir haben damals gemeinsam…«
-- »Leute wie der Stefan verdienen unsere uneingeschränkte Unterstützung!«
-- »Äh, ja?«
-- »Und wenn ich unsere sage, dann meine ich alle Personen, die ein menschliches Miteinander pflegen. Nicht wie im Mittelalter!«
-- »Im Mittelalter? Softwareingenieure im Mittelalter?«
-- »Typisch! Jetzt lenkt er wieder ab!«
-- »Aber wovon denn?«
-- »Du weißt genau, wovon, Robert!«
-- »…«
-- »…«
-- »Noch nie hattest Du einen Regenbogenhintergrund am Gleichberechtigungstag!«
-- »Aber -- warum sollte ich? Ich finde den Sonnenuntergang von Sardinien viel schöner.«
-- »Ein Sonnenuntergang ist also wichtiger als die Mitmenschen! Typisch!«
-- »Äh, was? Das habe ich doch gar nicht…«
-- »Leute wie Du sind das wahre Problem bei der Gleichstellung von Frau und Mann und Diversseienden!«
-- »Weil ich mein Profilbild noch nie geändert habe?«
-- »Das Profilbild, das Profilbild! Das ist doch bloß ein Symptom rechtsmaskuliner Toxizität!«
-- »…«
-- »Jawohl!«
-- »Was ist denn rechtsmaskuline Toxizität?«
-- »Das, womit Unmenschen wie Du tagein tagaus unser Zusammenleben und unsere Gesellschaft vergiften!«
-- »…«
-- »Ich weiß gar nicht, wie man solche Arschgeigen einstellen kann! Sonst machen die Personaler innen ja eine gute Arbeit.«
-- »Aber -- was habe ich denn getan?«
-- »Und jetzt auch noch abstreiten! Du gefühlloses… Du gefühlloser… gefühlloser weißer Mann! Du… Du solltest Dir mal ein Beispiel am Heinz nehmen! Der ist fürsorglich! Und der hat beim letzten Diversity Day auch mitorganisiert.«
-- »Als ich auf Fortbildung war?«
-- »Der Diversity Day stand ja wohl schon Jahre im voraus fest! Der ist jedes Jahr im Oktober!«
-- »Mag sein, aber nicht in meinem Kalender. Was macht man denn am Diversity Day?«
-- »Allein schon diese Frage! Leute, die solche Fragen stellen, regen mich einfach nur noch auf! Statt sich zu freuen für den Stefan, dass er schwul ist…«
-- »Er hat mir erzählt, er wäre bi.«
-- »Jaja, lenk nicht ab. Ist doch egal. Statt sich da zu freuen, scheißt Du auf die Gleichberechtigung.«
-- »Weil ich ein Sonnenuntergangsbild auf Facebook habe und am betriebsinternen Diversity Day auf Fortbildung war? Bist Du sicher, dass das Sinn ergibt?«
-- »Und diese asoziale Einstellung! Mit mir kann man's ja machen! Einfach mal die Kollegin anfeinden und für verrückt erklären, nur weil sie Gleichberechtigung will! So! Und jetzt geht das vor die Gleichstellungsbeauftragte!«

--

»Stefan, den Robert haben wir endlich aus dem Unternehmen gekickt!«
-- »Oh. Claire, warum denn das? Das war der einzige hier, der mich…«
-- »Ja, ich weiß! Der hat sich gebärdet wie ein asozialer Steinzeitmensch! Auch wenn solche Gefühlstrampel das vielleicht gar nicht immer böse meinen, das verstehe ich natürlich total, dass so etwas im Unternehmen nicht tragbar ist. Vor allem in einem kleineren Betrieb, mit wenig Arbeitnehmenden. Schau, deswegen haben wir auch zeitgleich das Infoblatt für den Umgang mit sexueller Orientierung ans Schwarze Brett gepinnt und diese 'Equality'-Aufkleber verteilt. Mit der Regenbogenflagge! Für jede n Mitarbeiter in haben wir extra zwei geordert!«
-- »Der einzige, der mich…«
-- »Der keine besonderen Mitarbeitenden für voll genommen hat, ich weiß. Ein Macho sondergleichen! Dem endlich einmal das Handwerk gelegt gehört hat! Wir haben hier sowieso viel zu viele weiße Cismänner.«
-- »Stefan ist der einzige, der mich…«
-- »Verachtet hat, ja. Ganz anders als der Heinz. Der Heinz ist ein vorbildlicher Mitarbeitender. In jeder Sekunde ist der Heinz sozial und engagiert! Ich habe deswegen angeregt, den Heinz zu befördern. Du reportest dann an ihn.«

--

»Claire, weißt Du, wo Stefan ist?«
-- »Das weißt Du nicht, Heinz? Du bist doch der die zuständige r Manager in? Der Stefan hat gekündigt!«
-- »Naja, der hat ja auch ein schweres Los. Das kann man frau sich gar nicht vorstellen, was Minderheiten so alles durchmachen müssen. Ich bin ja privilegiert, da kann ich mir das gar nicht ausmalen.«
-- »Da hast Du recht! Aber super, dass wir wenigstens hier so ein soziales Miteinander pflegen, mit so viel Awareness über die Probleme. Da können wir uns nur auf die Schulter klopfen! Aber an dem gefühlskalten Vollhorst, dem Robert, sieht man ja, dass es noch ein weiter Weg ist, bis diesse ganzen Arschkrampen endlich einmal mit der Diskriminierung aufhören.«
-- »Ja. Kein Wunder, dass Stefan mich beleidigt hat. So sind sie halt, die Minderheiten. Aber das ist auch ganz normal, dass denen ein normales Miteinander schwerfällt. Weil die ja jeden verdammten Tag von irgendwelchen gefühllosen oder bösartigen Roberts diskriminiert werden.«
-- »Ja.«
-- »Ja.«

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Und alle sind glücklich. Und wenn doch nicht… möchte ich musikalisch -- auch aus Gründen der Diversifizierung -- an einen jüngst verstorbenen irischen Instrumentalisten (und zugleich Journalisten) erinnern, der Anfang des Monats verstarb: https://www.youtube.com/watch?v=rB0OGwITkOc .

Aber noch lieber sind mir natürlich Lieder mit Texten, mit saibhreas teanga (Zungenreichtum). Und wo wir schon im Irisch-Gälischen sind:
https://www.youtube.com/watch?v=QMJ3Nx4U5rE .

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (24.10.2021 01:54).

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