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  • Twister

mehr als 1000 Beiträge seit 27.11.2000

Jürgen B.

Eigentlich war Jürgen B. ein völlig stinknormaler Junge. Na ja,
sofern es so etwas wie einen stinknormalen Jungen noch gab und nicht
die Tatsache, dass er weder 2 Handies, 2 Playstations noch 3 Pager
besaß, schon auf gewisse Absonderlichkeiten schließen ließen. Wenn
man es von der Warte betrachtete, war Jürgen B. eigentlich doch
komisch. Er trug Sachen, die man nur mit viel Wohlwollen als lässig
betrachten konnte und vor einigen Tagen hatte er in einem
Pausengespräch seine eigene Unkenntnis geoutet, als er zugegeben
hatte, in den letzten Wochen weder Matrix: Reloaded gesehen noch das
passende Getränk konsumiert zu haben. (Als alles vorbei war,
formulierte es eine Mitschülerin so: "Der trank sogar aus
Wasserflaschen ohne Aufdruck").

Was Jürgen B. in den Augen seiner Mitschüler endgültig zur Superniete
abstempelte, war nicht nur seine permanente Ignoranz (ehrlich, der
kannte weder Sarah C. noch Crazy Daniel), sein merkwürdiger
Literaturgeschmack (Mann, wir haben hier alle die coole Bio von dem
Rapper und der Spakke liest sowas wie "Der alte Mann und das Meer" -
was soll das überhaupt sein? Ne Fischgeschichte?) und seine
Weigerung, sich vernünftige Schuhe zu kaufen (der trug so
Billigschuhe... echt komisch) sondern...
dass seine Eltern Politiker waren. Politiker! Mann stelle sich das
vor. Da kommt so ein Typ daher, mit Billigtretern und Hosen vom
Second-Hand-Shop, hat nichmal nen Handy und dann sind die Alten noch
welche von den endätzenden Polit-Fuzzies.

Trotzdem schien Jürgen B. eigentlich ganz gelassen zu sein. Er
brachte gute Noten nach Hause und benahm sich "redlich" wie es sein
Vater, ein angesehener medienkompetenter Regionalpolitiker,
ausdrückte. Auch Jürgens Mutter, die sich für Jugendschutz und den
Kampf gegen Sexismus einsetzte (ihre letzte Vortragsreihe: "Warum ist
die Tür weiblich, warum ist der Stuhl männlich - deutet das nicht auf
Penetration und Pentriert-Werden hin" war ein großer Erfolg gewesen),
war mit ihrem Sohn zufrieden. Wenn er jetzt noch eine Freundin nach
Hause brachte, standesgemäß bitteschön, dann war ja alles klar.

"Mama?" Jürgen kam in die Küche und holte sich ein Glas Milch.
"Es gibt ein Problem."
"Oh nein, Jürgen..." Sie sah ihn ermattet an. "Schatz, Dein Vater und
ich, wir kümmern uns gerade darum, den Jugendschutz rund um die Uhr
möglich zu machen. Nicht so einfach, wenn man überlegt, dass es
irgendwo auf der Welt ja immer so spät ist, dass der Jugendschutz
nicht greift. Und viele Staaten sind da sehr lax..." Sie fuhr fort
mit ihrer Argumentation während Jürgen, der seine Milch ausgetrunken
hatte, ein paar Worte einwarf, die sie aber ignorierte.
"Schatz, wir reden demnächst, ja? Ich muss jetzt dringend los." Sie
stand auf und gewahrte das Mädchen hinter Jürgen, eine zierliche
kleine Maus mit struppigen Haaren. Meine Güte, hätte er sich denn
nicht was Ansehnliches aussuchen können?
Sie zog ein paar Geldscheine aus der Börse und steckte sie Jürgen in
seine Brusttasche. "Kauft euch was Schönes... oh, und badet doch
einfach zusammen, hm?"
Vielleicht würde die Kleine danach etwas besser aussehen. "Und Deine
Freundin kann auch ruhig meine Kosmetika benutzen. Und die
Haarspülung. Und den Conditioner..."
Jürgen sah ihr nach und griff nach der Hand seiner Freundin.


Als Jürgens Vater, knapp 7 Wochen später, abends von einer Feier nach
Hause kam, stolperte er, ein wenig angeheitert, zusammen mit Jürgens
Mutter ins Badezimmer.
Jürgen und seine Freundin lagen gemeinsam in der Badewanne und die
Tatsache, dass sie tatsächlich den Conditioner benutzt hatte, hätte
Jürgens Mutter fast fröhlich gestimmt, wenn sie nicht gleichzeitig
gesehen hätte, dass die neue Badematte wohl durch das geronnene Blut
unwiderruhlich hinüber war.

Sie sahen sich an und Jürgens Vater wurde blass. Dennoch, auch wenn
ihm die Trauer die Tränen in die Augen trieb, rief er hastig die
Polizei und den Rettungsdienst. was natürlich, wen wunderte es, zu
spät war. Zwei Tage später fanden sie heraus, dass Jürgens Noten sich
verschlechtert hatten und dass er wohl öfter abends mit seiner
Freundin in Discos oder Internet-Cafes herumgehangen hatte, wo sie
zusammen an irgendwelchen Online-Spielen teilgenommen hatten.

Obwohl Jürgen B.s Eltern den Schock und die Trauer kaum überwinden
konnten, waren sie sich in einem einig: "Mehr denn je war es wichtig,
den Kindern Schutz vor diesen unseligen Spielen und dieser Musik (sie
hatten eine Joy Division CD bei Jürgen gefunden) zu bieten, mehr denn
je war es wichtig, für sie da zu sein."
Neue Regelungen in Bezug auf Online-Spiele und Musik wurden prompt
auf den Weg gebracht und Jürgens Vater organisierte eine Konferenz
zum Thema "Nie wieder".

Jürgens Mutter fand zwei Wochen später in Jürgens Jacke einen Zettel.
Es war das Resultat eines AIDS-Testes und sie erinnerte sich daran,
dass ihr Jürgen etwas gesagt hatte. Es hatte wie "ich hab Eins"
geklungen und sie hatte ihn erst daran erinnern wollen, sich um seine
Grammatik zu kümmern und nicht einfach Worte zu verschlucken. Aber
dann hatte sie nur "schön, Schatz, weiter so" gesagt - es war
schließlich kurz vor einer Konferenz gewesen und sie war in Eile.
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