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  • Irwisch

mehr als 1000 Beiträge seit 22.03.2005

Geld, Schulden, Kredit und Moral

Im Gegensatz zu fast allen Ökonomie-Historikern weist der Antropologe David Graeber in seinem Buch Schulden: Die ersten 5000 Jahre eindrucksvoll nach, daß in früheren Zeiten meist nicht getauscht, sondern gegeben wurde, jedoch nicht ohne sich eine entsprechende Schuldigkeit im Sinne eimer Art »Rückgabepflicht« oder besser: gegenseitiger Hilfsbereitschaft zu merken. Die Welt des Tauschhandels, wie sie heute von vielen Ökonomen ihren Lehrbüchern vorangestellt wird, ist eine Fiktion. Menschen, die in archaischen Zeiten miteinander lebten, kannten und vertrauten sich und hatten es daher nicht nötig, auf sofortigem wirtschaftlichem Ausgleich zu bestehen, was heute der sofortigen Bezahlung einer Ware oder Dienstleistung entspricht. Diese Geschichte wurde bereits von Aristoteles um 330 v.Chr. erzählt:

Zu Anfang, so meinte er, hätten die Familien wohl alles, was sie brauchten, selbst produziert. Nach und nach spezialisierten sich einige, manche produzierten Getreide, andere Wein, und man tauschte das eine gegen das andere. Im Verlauf dieses Prozesses müsse wohl das Geld entstanden sein. Aber genauso wie die mittelalterlichen Scholastiker, die gelegentlich diese Geschichte wiederholten, ließ sich Aristoteles nicht darüber aus, wie das im Einzelnen vor sich ging. (Graeber, S. 30)

Es gibt noch weitere solcher Märchen, die verschleiern sollen, daß der größte Teil der Menschen seit Jahrtausenden gegängelt, kontrolliert, beherrscht wird, und zwar von Reichen und Mächtigen, die diesen Status niemals und nirgendwo wegen ihrer Menschenfreundlichkeit und ihres Wohlwollens erreicht haben, sondern immer durch Gewalt, Krieg, Betrug, Lügen und Intrigen. So versuchte schon Adam Smith, in Anlehnung an John Locke, darzustellen, Geld sei keine Schöpfung der Herrschenden, wie auch Regierungen und Staaten nicht von Reichen und Mächtigen sozusagen erfunden und installiert wurden, sondern von den Völkern selbst entwickelt worden seien, um deren Privateigentum zu schützen. Nach Smith seien Geld, Eigentum und Märkte die Grundlage der menschlichen Gesellschaft und hätten bereits lange vor den politischen Institutionen existiert. Doch ein solches Land des Tauschhandels oder des sich aus sich selbst nach und nach entwickelten Nationalstaates hat nie existiert, es mußte erfunden werden, um die kruden Wirtschaftstheorien zu untermauern.

Geld in Form greifbarer Münzen ist eine Erfindung von Herrschenden, um Söldnerheere bezahlen zu können. Im Gegensatz zu einem Söldnerheer, das nicht mit Geld, sondern mit Nahrung und Wertgegenständen (Beute) bezahlt wird, hat eine mit Münzen bezahlte Armee den Vorteil, nicht so viel Nahrung und Schlachtvieh mit sich herumschleppen zu müssen und konnte daher flexibler sein. Die Münzen boten den Händlern in den Ortschaften, durch die solche Räuberbanden zogen – denn nichts anderes waren sie (und sind sie auch heute noch) als bezahlte Räuberbanden, die andere Gegenden unterwerfen und ausrauben sollten –, Anreiz genug, um ihre Lebensmittel und sonstigen Güter herauszugeben. Damals wurden Münzen noch mit einem entsprechenden Anteil an Gold und Silber geprägt, im Gegensatz zur Neuzeit hatten sie daher nicht nur einen ideellen Wert, sondern besaßen seinen Wert an sich.

Das Geld als angebliches Tauschmittel hat heute eine ganz andere Hauptfunktion: Es dient vorwiegend der Kontrolle des erwarteten und geforderten Gehorsams. Wer nicht gehorsam ist, wer sich nicht mit seinem ganzen Wesen den herrschenden gesellschaftlichen Strukturen unterwirft, wird mit wirtschaftlichen Nachteilen bestraft: er kriegt kein oder nur wenig Geld, meist gerade so viel, daß er nicht an Unterernährung stirbt. Heute speist man sogar hart arbeitende Menschen wieder mit einem Mindestlohn ab, der oft nicht einmal dazu ausreicht, um das Überleben zu garantieren (Aufstocker). Geld ist also vor allem ein Kontrollwerkzeug, das dazu dient, die Menschen bei der Stange zu halten, sie unterwürfig und gehorsam zu halten, sie davon abzubringen, aufzumucken und eigenen Zielen zu folgen, ihre Energien im Sinne der Interessen der Mächtigen zu bündeln und sie dieser geringen Minderheit gefügig dienstbar zu machen.

Weil dieser Mechanismus bereits seit Jahrtausenden auf die Menschen einwirkt, hat sich durch die entsprechende Sozialisation (Erziehung) ein Menschen- bzw. Charaktertypus herausgeschält, der häufig gar nicht mehr anders kann, als alles in Geldwert zu bemessen. Ein Glas, das dem Aufnehmen und Trinken von Flüssigkeit dient, hat für diesen Menschen keinen Wert ansich, sondern wird danach bewertet, was es gekostet hat. Die Investition von Liebe und Zuneigung wird daran bemessen, wie gut die Empfangenden sich nach den Wünschen des Zuneigenden richten: Wenn du dich nicht so verhältst, wie ich es von dir erwarte, dann liebe ich dich nicht, dann lasse ich dich fallen, dann bist du meiner Zuneigung nicht wert. Der Status in der Gesellschaft, den ein Individuum genießt, ist direkt damit verbunden, wieviel Geld es zur Verfügung hat.

Dieses Buch von David Graeber ist für mich ein Meilenstein der Erkenntnis gewesen, daß das meiste von dem, was von Ökonomen geschrieben und veröffentlicht wurde, auf Sand gebaut ist, weil es sich erfundener Geschichten bedient, um sich zu legitimieren. Ich kann dieses Buch daher nur jedem empfehlen, der sich abseits allgegenwärtiger Markttheorien grundsätzlich über die Entstehung von Geld und Schulden informieren möchte. Was Sie dort lesen können, wurde sehr gut recherchiert und nachgewiesen, wofür David Graeber außerordentlicher Dank gebührt.

https://tinyurl.com/yy2j3kqz

Ich lebe jetzt seit beinahe 20 Jahren quasi ohne Geld, sieht man von dem Überlebensrinnsal ab, das mir monatlich gewährt wird, um mein physisches Überleben zu sichern. Die Sorge darum, wie sich mein Verhalten gegenüber anderen, mächtigeren, z.B. Vorgesetzten in der Firma auf meine Einkommenssituation auswirkt, habe ich nicht mehr. Auch mit den Sachbearbeitern im Jobcenter hab ich eigentlich keine ernsthaften Probleme, wenn man davon absieht, daß sie mich jedesmal, wenn wir uns begegnen, herunterzudrücken versuchen, indem sie sich mich wie ein Kind behandeln, wie ein Objekt, an dem sie ein rein sachliches, aber niemals ein persönliches Interesse haben. Das muß man natürlich wegstecken können, ohne an sich selbst zu scheitern und zu verzweifeln, indem man diese Behandlungsweise bewußt und energisch von sich weist. Inzwischen sage ich denen sogar, daß sie mich wie ein Objekt behandeln, ein Objekt ihrer Karriere, daß ich aber ein lebendiger und empfindungsfähiger Mensch aus Fleisch, Haut, Blut und Knochen sei und daß sie sich einmal überlegen sollten, was sie bei mir mit ihrer Behandlungsweise anrichten. Das ist nicht unbedingt vergeblich, die meisten Sachbearbeiter ertragen das nicht und lassen sich ersetzen. Die vorletzte (stark übergewichtige) Dame, der ich das gleich beim ersten Date gesagt habe, hat quasi sofort das Weite gesucht, ich hab sie nie wieder gesehen.

Seit gut 20 Jahren bin ich immer weniger darauf angewiesen, im zuvor gewohnten Stil konsumieren zu können bzw. zu müssen, um mein Wohlbefinden auf einem erträglichen Niveau zu halten. Hilfreich dabei ist die Tatsache, daß ich seit mehr als 35 Jahren weder Fernseher noch Radio besitze, auch keine Stereoanlage und keine ablenkenden Musikkonserven (nur meine Gitarre und mein Masterkeyboard) und daß ich in dieser Zeit lieber gelesen habe oder gewandert bin, wenn es mir die freie Zeit zwischen den täglichen festen Arbeitsterminen gestattet hat. Zudem war ich schon immer ein Einzelgänger, schon als Kind in der Grundschule, was wohl auch damit zusammenhängt, daß ich schon damals ganz andere Weltvorstellungen hatte als meine Mitmenschen und Mitschüler. Das wiederum hängt, soweit ich das überblicke, damit zusammen, daß ich schon früh zu lesen begonnen habe, mit 9 Jahren hatte ich die meisten Märchenbücher und Heldensagen regelrecht aufgesogen und damit eine alternative Weltsicht geschaffen, die so ganz anders war als die meiner prügelnden Eltern, meines besoffenen Vaters und meiner hysterischen Mutter, von meinen korrupten und hinterhältigen jüngeren Brüdern ganz zu schweigen. Ich ertrage es also noch immer locker, ein Aussenseiter, ein Eigenbrötler mit Eigensinn, ein Ausgestoßener und teilweise auch gefürchteter Sonderling zu sein, der zwar die meiste Zeit seines Lebens für Geld gearbeitet hat, aber doch nie wirklich genug Geld hatte, um aus diesem Hamsterrad ausbrechen zu können. Heute hab ich so gut wie kein Geld, das mit irgendwie zu Konsumhandlungen verlocken könnte, es reicht gerade so aus, um die Kosten zu begleichen, die Wohnung, Strom, Heizung, Internet und Lebens- und Nahrungsmittel zu bezahlen. Es reicht nicht, um einen neuen Staubsauger, Kühlschrank oder gar eine Waschmaschine zu kaufen, was mich aber nicht nennenswert bedrückt.

Worauf ich inzwischen angewiesen oder wovon ich sogar regelrecht »abhängig« geworden bin, ist das tägliche Bei-mir-Sein: Ich kann es mir in meiner Situation nicht mehr leisten, auch nur einen einzigen Tag entfremdet zu verbringen, losgelöst oder besser: abgetrennt von meiner Gefühlswelt, von meinen persönlichen Interessen, von meiner tatsächlichen Charakterstruktur und vor allem von meinem Willen, jeden Tag etwas Neues dazuzulernen. Ich muß jeden Tag genau wissen, wie es um mich bestellt ist, muß die leisten Stimmen aus meinem Inneren wahrnehmen können, um zu erkennen, was ich heute brauche, welche Nahrung, welche Kräuter, welche körperliche Haltung oder Bewegung heute angesagt sind. Ich muß mich nicht mehr wachhalten, wenn ich müde bin, sondern haue mich einfach mal eine Stunde aufs Ohr, um danach erfrischt wieder ans Tageswerk gehen zu können. Ich muß nicht essen, wenn der Zeiger meiner Uhr eine bestimmte Position erreicht hat, sondern esse, wenn ich Hunger habe. Ich muß auch nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt auf die Toilette gehen, mein Darm meldet mir zu unterschiedlichen Zeiten, daß er jetzt entleert werden möchte. Ich muß auch nicht mehr das denken, was zu denken vorgeschrieben ist, sondern kann meinen Gedanken und Überlegungen freien Lauf lassen, kann lesen, was immer mich interessiert, kann mir YouTube-Videos mehrfach anschauen, um dahinter zu kommen, was sie zu sagen haben, kann im Internet recherchieren, ohne auf die Uhr schauen zu müssen – weil niemand mich drängt, weil ich alle Zeit der Welt habe, und das liebe Leser, ist ein Freiheitsgefühl, das die meisten sich nicht auch nur ansatzweise vorstellen können. Die gefühlte Freiheit beim Rasen auf der Autobahn ist dagegen ein Mückenschiß, die scheinbare Freiheit, sich alles kaufen zu können, was man sich nur wünschen kann (die eigentlich ein Zwang ist, sich alles kaufen zu müssen, was sich mit der verfügbaren Geldmenge kaufen läßt), diese scheinbare Freiheit veschwindet hinter der von mir gefühlten Freiheit wie ein alter verdorrter Zweig, der schon lange sein welkes Laub verloren hat und sich bereits in Humus zu verwandeln beginnt. Einsamkeit? Kenne ich schon lange nicht mehr, auch wenn ich die meiste Zeit meines Lebens allein verbracht habe. Materielle Not gibt's schon noch manchmal, doch solche Situationen hab ich meist selbst und ganz bewußt herbeigeführt, um kurzfristig andere Ausgaben tätigen zu können. Was juckt es mich, wenn ich mal einen Monat lang statt Mineral- nur Leitungswasser trinke oder den Kaffee einen Monat lang ohne Milch und Zucker? Was juckt es mich, daß ich nach Jahren der Tabakabstinenz noch immer gelegentlich das Bedürfnis verspüre, eine rauchen zu wollen? Brot und Wurst und Gemüse bekomme ich ja sowieso von der Tafel, auch reichlich Obst. Ich fürchte, ohne die Tafel hätte ich meine Ernährungsgewohnheiten nicht wesentlich umgestellt. Süßigkeiten? Klar, Trauben und Erdbeeren und Pflaumen und Pfirsiche und Birnen und Äpfel, aber keine Schokolade und sonstiges Naschzeug, davon wird man dick und ruiniert sich die Zähne.

Die größte Angst des zivilisierten Menschen ist nicht die vor dem Tod, sondern davor, ausgegrenzt, ein Außenseiter zu werden. Doch nicht die Konformisten sind es, die mit neuen Ideen und Herangehensweisen den Fortschritt garantieren, sondern immer wieder Außenseiter, die ihr Denken und Handeln eben nicht in gewohnten und erlaubten Bahnen lenken lassen, sondern selbständig und selbstverantwortlich leben.

Colin Wilson: Der Outsider – Eine Diagnose des Menschen unserer Zeit
... über einen gewissen Punkt hinaus fügen sich die Probleme des Outsiders nicht mehr dem bloßen Denken; sie müssen gelebt werden.
http://irwish.de/PDF/Wilson-Outsider.pdf

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