0,005 Sekunden: Wie Hightech-Kameras über Gold bei Olympia entscheiden

Nur 5 Millisekunden trennten beim 100-Meter-Sprintfinale Platz 1 und 2. Wir erklären, wie die Ziellinientechnik bei den Olympischen Spielen funktioniert.

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Zielfoto

Das "Zielfoto" des 100-Meter-Finales bei den Olympischen Spielen 2024. Die roten Linien wurden von den Kampfrichtern eingezeichnet.

(Bild: IOC/Omega)

Lesezeit: 7 Min.
Inhaltsverzeichnis

Am Sonntag, 4. August, staunten die Zuschauer nicht schlecht: Im Finale in der Königsdisziplin des Sprints im Stade de France überquerten Noah Lyles und Kishane Thompson zeitgleich nach 9,79 Sekunden die Ziellinie. Dennoch durfte nur der US-Amerikaner Lyles über Olympisches Gold jubeln. Dass im Unterschied zu anderen Sportarten nicht beide die Goldmedaille erhalten, erscheint auf den ersten Blick ungerecht. Wer das Zielfoto anschaut, könnte sogar meinen, der schließlich Drittplatzierte Fred Kerley hätte den Sprint gewonnen, weil sein Fuß zuerst die Ziellinie überquerte. Doch Kopf und Gliedmaßen zählen in den Laufwettbewerben nicht, nur der Rumpf. Und dort lag Lyles nach Auswertung des Zielfotos mit 9,784 Sekunden 0,005 Sekunden vor Thompson (9,789 s) und Fred Kerley (9,81 s).

Doch wie weit bewegen sich die Sprinter in 5 Millisekunden überhaupt? Gemäß der Laufanalyse hielt Noah Lyles seine nach 65 Metern erreichte Höchstgeschwindigkeit von 43,6 km/h (entspricht 12,1 m/s) bis ins Ziel. Das heißt, er legte in der Zeit 6 Zentimeter zurück – ein Unterschied, der im Zieleinlauf deutlich sichtbar sein sollte. Doch wann muss die Kamera für das Zielfoto auslösen? Wie erkennt sie den Rumpf statt Kopf, Arme oder Beine? Um die geeignete Zeitnahme- und Aufnahmetechnik dafür kümmert sich seit den Olympischen Spielen 1932 das Schweizer Unternehmen Omega, dessen 100-jähriger (!) Vertrag allerdings demnächst ausläuft.

Die zu den Olympischen Spielen in Paris eingeführte neue Ziellinienkamera Scan'O'Vision Ultimate von Omega macht nicht nur ein Foto, sondern bis zu 40.000 Bilder/s (zeitliche Auflösung 25 Mikrosekunden) "in 4K". Sie ist die Nachfolgerin der Scan'O'Vision Myria, die auf ‘nur’ 10.000 Bilder/s (100 Mikrosekunden) kommt. Das "4K" ist bei der Scan‘O’Vision Ultimate allerdings anders zu verstehen als erwartet, da es sich um eine Schlitzkamera ohne Shutter handelt, die Bilder mit einer Breite von nur einem Pixel aufnimmt.

Zwar konnten wir bisher keine detaillierten technischen Daten der neuen Kamera finden, aber ausgehend vom Vorgängermodell, das 1 × 2048 Pixel aufnimmt, dürfte die Ultimate eine Auflösung von 1 × 4096 Pixel haben. Für die 5 Millisekunden (5000 Mikrosekunden) hätte man die Ultimate-Kamera übrigens nicht gebraucht, dafür hätte die Myria völlig ausgereicht. Um die Möglichkeiten der Scan'O'Vision Ultimate voll auszuschöpfen, hätte der Vorsprung allerdings in der Größenordnung von einem Millimeter liegen müssen. Aber dann wäre die Diskussion sicherlich noch größer gewesen ...

Omegas neue Ziellinien-Kamera Scan'O'Vision Ultimate kann nach Angaben des Unternehmens bis zu 40.000 Bilder/s fotografieren.

Für die Ziellinien-Aufnahmen werden für die Olympischen Spiele drei Kameras eingesetzt – eine Hauptkamera, eine Ersatzkamera und eine Infield-Kamera –, die aus verschiedenen Winkeln auf die Bahn blicken. Die unterschiedlichen Perspektiven benötigt man, um alle Läufer klar zu erfassen, falls sie sich beim Zieleinlauf gegenseitig verdecken. Die Aufnahmen der Hauptkamera werden laut Internationalem Olympischen Komitee vom Hauptzeitnehmer, Hauptschiedsrichter und Teamleiter analysiert, während ein weiterer Offizieller die Perspektiven der Infield- und Ersatzkamera auswertet.

Wer sich das offizielle Zielfoto genau anschaut, wird feststellen, dass die Läufer darauf seltsam verzerrt aussehen. Das liegt daran, dass der vertikale Streifen, aus dem das Bild besteht, ein Pixel breit ist und nur die Ziellinie zeigt. Das bedeutet, dass die horizontale Achse des "Fotos" nicht die räumliche Position der Läufer darstellt, sondern die zeitliche Reihenfolge, in der die Athleten die Ziellinie überqueren. Durch diese Aufnahmetechnik erscheinen die sich bewegenden Körperteile verzerrt. Arme und Beine werden je nach Bewegungsgeschwindigkeit gestreckt oder gestaucht. Statt wie früher ein Zielband zwischen zwei Pfosten aufzuhängen, sind die Zielpfosten mit Fotozellen ausgestattet, die als virtuelles Zielband die Kameras auslösen. Das gesamte Funktionsprinzip hatte Omega für die Olympischen Spiele 2016 in folgendem Video veranschaulicht:

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Leichtathletik-Fans werden sich beim Betrachten von Zeitlupenaufnahmen des Zieleinlaufs fragen, was es mit der kleinen "funkelnden" Säule neben dem Zielpfosten auf der Innenbahn auf sich hat. Das Flackern kommt daher, dass LEDs in Spalten ein Muster anzeigen, das im zusammengesetzten Zielfoto die in Wirklichkeit nicht vorhandene "Bandenwerbung" erzeugt, die sich aus den wechselnden Olympia- und Omega-Logos am oberen Bildrand zusammensetzt.

Zwei mit Fotozellen versehene Zielpfosten (umrandet) bilden ein virtuelles Zielband, auf der Innenbahn sieht man eine kleinere Säule (oben, ebenfalls umrahmt), die synchronisiert zu den Ziellinienkameras ein Muster als virtuelle Bandenwerbung ins Zielfoto zeichnet.

(Bild: ZDF)

Zwar hat sich die Auflösung der Ziellinienkameras über die Jahre stetig erhöht, neu ist die Technik an sich aber nicht. Erstmals wurde sie für Zielfotos während der Olympischen Sommerspielen 1948 eingesetzt: einerseits "Magic Eye"-Fotozellen von Omega, andererseits eine von der British Race Finish Recording Company entwickelte Schlitzkamera. Während die Fotozelle den genauen Zeitpunkt des Überquerens der Ziellinie aufzeichnet und so die Zielbänder ablöste, ermöglichte die Schlitzkamera es den Schiedsrichtern, zweifelsfrei die Reihenfolge der Zieleinläufe festzustellen. Damals wie heute musste man das Zielfoto beim 100-Meter-Finale der Männer zurate ziehen, um den Sieger zu ermitteln.

Bereits seit den Olympischen Sommerspielen 1948 werden Zielfotos zur Auswertung eingesetzt.

(Bild: Omega)

Einige Kritiker halten den Messaufwand für übertrieben, da die Sprinterinnen und Sprinter bereits beim Start benachteiligt würden. Sie argumentieren, dass der gemessene Unterschied von 0,005 s zwischen dem ersten und dem zweiten Platz irrelevant sei, da die Sprinter den Startschuss auf ihrer Bahn zu unterschiedlichen Zeiten wahrnehmen könnten. Schließlich bewege sich der Schall nur mit 330 m/s. Somit ergäbe sich zwischen den im 100-m-Finale belegten – Bahnen 2 bis 9 mit einer Breite von jeweils 1,22 m tatsächlich eine Zeitdifferenz von insgesamt 0,025 s (7 × 1,22 m / 330 m/s).

Zwischen Thompson auf Bahn 3 und Leyles auf Bahn 7 ergäbe sich also eine Zeitdifferenz von 3 × 1,22 m / 330 m/s = 0,011 Sekunden –, also ziemlich genau das Doppelte der 0,005 Sekunden Differenz beim Zieleinlauf. Diese Überlegungen sind jedoch müßig, da seit der Einführung der elektronischen "Startpistole" überhaupt kein Schuss mehr abgegeben wird. Stattdessen wird die Zeitmessung elektronisch ausgelöst und das Startsignal ertönt gleichzeitig aus mehreren Lautsprechern hinter den Startblöcken, sodass es zu keiner Benachteiligung von Startern auf verschiedenen Bahnen kommt. Viel wichtiger ist die Reaktionszeit der Athleten: Noah Lyles verließ seinen Startblock erst 0,178 Sekunden nach dem Startschuss.

Übrigens: Als kurz vor Olympia Crowdstrike etliche Windows-Systeme lahmgelegt hatte, waren die olympischen Zeitmesser von Omega glücklicherweise nicht betroffen, sonst hätten die Wettbewerbe möglicherweise erst mit Verspätung starten können.

(vza)