Von wegen dümmer!

Kritiker warnen, dass digitale Technologien unsere Intelligenz beeinträchtigen. Doch jetzt zeigen Studien, dass die neuen Medien ganz neue Lernformen ermöglichen und unsere kognitiven Fähigkeiten steigern können.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 3 Kommentare lesen
Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Eva Wolfangel
  • Veronika Szentpetery-Kessler

Kritiker warnen, dass digitale Technologien unsere Intelligenz beeinträchtigen. Doch jetzt zeigen Studien, dass die neuen Medien ganz neue Lernformen ermöglichen und unsere kognitiven Fähigkeiten steigern können.

Ein Schulhof am Rande von Panama City: Ein Junge kauert unter einem Baum, ein Smartphone in der Hand, ein Englischschulbuch auf den Knien. Aus dem Handy ertönt die Stimme seines Lehrers. Dieser liest den englischen Text aus dem Buch vor. Der Junge lauscht konzentriert. Dann spricht er dem Lehrer nach. Schließlich nimmt er seine Stimme ebenfalls auf und spielt seine Aufnahme und die des Lehrers abwechselnd ab. Unter diesem Baum auf einem panamaischen Pausenhof ist ein modernes Sprachlabor entstanden. Mit denkbar einfachen Mitteln.

Das Experiment hat die panamaische Informatikerin Elba Del Carmen Valderrama durchgeführt. Sie verteilte günstige Smartphones an Schulen ohne Lernsoftware. Ihre Idee: In Schwellenländern fehlen oft technische Möglichkeiten vom Drucker bis zum Beamer, um den Unterricht zu bereichern. Was würden Schüler und Lehrer mit den Handys machen? Die Ergebnisse waren so überraschend wie vielfältig: Innerhalb weniger Tage fungierten die Geräte als Kopierer und Sprachlabor, die Schüler erledigten damit Hausaufgaben und sendeten sie an die Lehrer, sie drehten Lernvideos und protokollierten den Unterricht. Vor allem aber: Sie lernten enthusiastisch.

Valderramas Beobachtungen sind kein Einzelfall. Ähnliche Erfahrungen machte auch Nicholas Negroponte, als er mit seiner Initiative „One Laptop per Child“ zwei abgelegene äthiopische Dörfer mit Laptops versorgte (s. TR 1/2007, S. 28): Jedes Kind bekam ohne jede Anleitung einen Computer inklusive Solar-Ladeeinheit mit einigen vorinstallierten Apps. Schon nach wenigen Minuten hatten die Kinder, die keine Schule besuchen und weder lesen noch schreiben können, den Einschaltknopf gefunden. Nach fünf Tagen hatten sie alle Apps ausprobiert, wie die Auswertung der Sim-Karten ergab. Nach zwei Wochen sangen die Kinder ein Alphabetlied, die ersten begannen zu schreiben. Sie hatten ein Programm entdeckt, das Bilder und Wörter miteinander verknüpft. Damit haben sie per Zufall eine Lernmethode angewendet, die in der Pädagogik zwar schon bekannt war, sich aber durch digitale Medien wieder verstärkt etabliert und die Bildung verändern dürfte: Wer sich Dinge aktiv erarbeitet, lernt nachhaltig. Klassischer Frontalunterricht oder Auswendiglernen dagegen ist wenig effizient.

Nicht nur Schulen in Schwellenländern profitieren von digitalen Medien. Die Geräte bringen auch in der westlichen Welt ganz neue Lernformate mit sich. Sie machen Prozesse sichtbar, vereinfachen natürliches Lernen und zeigen uns, wie wir Inhalte am besten vermitteln. „Der Mensch lernt dadurch effizienter und kann Vorgänge tiefer verstehen und einordnen“, sagt Ulrike Cress, stellvertretende Direktorin des Leibniz-Instituts für Wissensmedien in Tübingen. Immer mehr Erkenntnisse zeigen: Digitale Medien haben das Potenzial, unsere geistigen Fähigkeiten zu steigern. Cress spricht davon, dass sie uns „klüger“ machen. Damit dürften sich viele pädagogische Debatten hierzulande komplett drehen. Noch immer gilt die Digitalisierung im Bildungsland Deutschland mehr als Fluch denn als Segen. Der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer etwa malt das Horrorbild der „digitalen Demenz“ an die Wand. Die Digitalisierung verstärke Vergesslichkeit, Verflachung und Vereinsamung. Auch der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus, kritisierte letztes Jahr die „totale Computerisierung des Klassenzimmers“. Sie würde die Flüchtigkeit und den Konzentrationsmangel befördern und das Durchhaltevermögen verringern.

Ohne Frage bringen die neuen Technologien auch Probleme mit sich. Büroarbeiter müssen häufig mehrere Bildschirme sowie ihren Mail-Eingang im Auge behalten, das Telefon bedienen und nebenher eine komplexe Aufgabe bearbeiten. Zwischendrin unterbricht sie eine Skype-Konferenz oder das Smartphone, das mit einem Vibrieren auf neue Interaktionen in sozialen Netzwerken der Firma aufmerksam macht. Dieses Multitasking überfordert uns jedoch und senkt die Aufmerksamkeit, wie zahlreiche Studien zeigen. Einige Experten bringen gar Phänomene wie Erschöpfung und Burnout in Verbindung mit den ständigen Unterbrechungen.

Gleiches gilt für die Schüler. „Wenn man einfach 20 Computer in ein Klassenzimmer stellt, werden die Schüler nicht automatisch besser, sie lernen eher schlechter“, sagt der Neurowissenschaftler Torkel Klingberg vom Karolinska Institut in Schweden. Moderne Medien bringen viel Ablenkung und die Gefahr, alles gleichzeitig zu machen. Das aber ist nur die eine Seite. Denn umgekehrt gilt ebenso: Wer sich der Problematik bewusst ist, kann versuchen, möglichst viele störende Faktoren auszuschalten.

Auch in der Digitalisierung gilt damit der Leitsatz von Paracelsus: Die Dosis macht das Gift. Umgekehrt ausgedrückt: Die digitalen Medien sind ein hilfreicher Wirkstoff – wenn man sie richtig einsetzt. Eine erste Idee davon lieferte Klingberg bereits vor 13 Jahren. Er hatte ein Computerspiel entwickelt, um das Arbeitsgedächtnis und damit ganz allgemein kognitive Fähigkeiten zu verbessern. Im Arbeitsgedächtnis halten wir kurzzeitig Informationen präsent, um etwa Kopfrechnen zu können oder verschiedene Möglichkeiten abzuwägen. Es gilt als limitiert: Fünf bis sieben Dinge kann es auf einmal verarbeiten. Kinder, deren Arbeitsgedächtnis eine niedrige Kapazität hat, „kämpfen in Mathe oder versagen beim Textverständnis“, so Klingberg. In seiner Studie ließ er solche Kinder fünf Wochen lang täglich 45 Minuten mit dem Spiel trainieren. Um 15 bis 20 Prozent habe sich die Kapazität daraufhin verbessert, berichtet Klingberg: „Man kann das Arbeitsgedächtnis trainieren wie einen Muskel.“ Die Schüler seien daraufhin in der Schule besser geworden. Der Psychologe zitiert einen mit den Worten: „Jetzt kann ich mir merken, was der Lehrer sagt.“

Klingberg ging sogar noch weiter und behauptete, ein solches Training könne die Intelligenz steigern. Tatsächlich hatten Probanden seiner Studie nach einigen Trainingswochen in einem Intelligenztest signifikant besser abgeschnitten. Der Schluss schien naheliegend, da Psychologen einen starken Zusammenhang zwischen Arbeitsgedächtnis und IQ beobachteten. Klingbergs These sorgte für Aufsehen. Schließlich ging die Fachwelt bis dahin davon aus, dass Intelligenz eines Menschen festgelegt ist. Gehirntraining wurde ein Geschäft, mit dem sich gut Geld verdienen lässt. Aber Klingbergs These wurde in den Folgejahren in mehreren Folgestudien widerlegt, die unter anderem zeigten, dass die Methode, nur eine einzige Art von IQ-Test zu verwenden, Fehler produziert haben könnte.

Abgeschlossen ist das Thema damit jedoch nicht. Schließlich legen Erhebungen nahe, dass der IQ in den Industrienationen seit mehr als 20 Jahren steigt. Ein solcher Trend wurde erstmals 1984 vom neuseeländischen Politologen James R. Flynn nachgewiesen und später nach ihm benannt. Wie stark der Flynn-Effekt heute noch wirkt, ist umstritten: Es fehlen eine aussagekräftige Datengrundlage und eindeutige Vergleichsgruppen. Flynn selbst sieht eine weiter steigende Intelligenz, vor allem das logische Denken verbessere sich aktuell. Woran das liegt, ist unter Anhängern der Theorie umstritten. „Die meisten Psychologen denken, dass das ein Effekt der Digitalisierung ist“, sagt Klingberg. Also doch ein Trainingseffekt unseres Arbeitsgedächtnisses, das sich an die digitalen Herausforderungen anpasst und der auch unsere Intelligenz steigert? Klingberg ist vorsichtig geworden: „Im 20. Jahrhundert hat sich vieles verändert.“ Irgendetwas davon schlage sich im IQ nieder.

(vsz)