10 Jahre nach dem Super-GAU in Fukushima: Japans langer Weg zur Normalität

Die Regierung in Tokio beansprucht große Fortschritte bei der Bewältigung der Atomkatastrophe in Fukushima. Doch Greenpeace kritisiert die amtlichen Pläne.

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Strahlungshotspot im Sperrgebiet.

(Bild: PD)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Martin Kölling

Die deutsche Regierung peitschte im ersten Schock nach dem Super-GAU von Fukushima den Atomausstieg durch. Doch Japans Regierung hält der Atomkraft bis heute die Treue, obwohl die Atomruinen weiterhin Radioaktivität in die Umwelt abgeben. In der neuen Energiestrategie sollen zwar erneuerbare Energien bis 2050 zwischen 50 und 60 Prozent des Stroms produzieren, um Japan bis dann klimaneutral zu machen. Aber Atomkraft und Thermalkraftwerke plant Japans Ministerium für Handel, Wirtschaft und Energie immerhin noch mit 30 bis 40 Prozent ein.

Mika Ohbayashi, Direktorin am japanischen Institut für erneuerbare Energie (REI), kritisiert das Ziel zwar als unrealistisch hoch. Schließlich müssten dafür wohl neue Reaktoren gebaut werden. Doch das erscheint politisch nicht durchsetzbar, sosehr sich die Regierung und der Betreiber der Reaktoren, Tepco, zum 10. Jahrestag der Atomkatastrophe auch bemühen, die Lage in Fukushima als normalisiert darzustellen.

Post aus Japan

Japan probiert mit Elektronik seit jeher alles Mögliche aus - und oft auch das Unmögliche. Jeden Donnerstag berichtet unser Autor Martin Kölling an dieser Stelle über die neuesten Trends aus Japan und den Nachbarstaaten.

Ein Besuch im AKW kurz vor dem Jahrestag glich einem surrealen Kontrastprogramm. Tepco präsentiert, wie sehr sich die Arbeitsbedingungen im Atomkraftwerk bereits gebessert haben. Die Arbeiter müssen sich schon lange nicht mehr, wie früher, 40 Kilometer entfernt in Schutzkleidung werfen. Stattdessen dürfen sie ihre Autos auf dem AKW-Gelände parken.

Auch auf einem Großteil des Geländes können sich die Menschen in normaler Arbeitskleidung bewegen. Dabei ragen nicht weit entfernt die Ruinen von vier zerstörten Reaktoren empor. In deren Umgebung steigt die Strahlung rasch, Schutzanzüge sind Pflicht. Aber auf dem Rest des Geländes haben die Retter die strahlenden Trümmer und Böden – und damit jeglichen amtlichen Zweifel an der Atomkraft – einfach mit einer Schicht Beton abgedeckt.

Kurz vor dem Jahrestag erklärte dann Wiederaufbauminister Katsuei Hirasawa der Öffentlichkeit, dass auch die Dekontaminierung der Umgebung große Fortschritte mache. Seit Jahren lägen die Lebensmittel aus der Region unterhalb der Grenzwerte. Zudem würden immer mehr Siedlungen nach einer Dekontaminierung für die Besiedlung freigegeben. Nur noch 2,4 Prozent von Fukushima seien Sperrgebiet.

Damit dürfte er die skeptische Bevölkerung allerdings nicht überzeugen. In den jüngsten Jahren sprachen sich selbst nach Umfragen der japanischen Stiftung für Atomenergiekultur rund 60 Prozent der Japaner für einen sofortigen oder schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie aus. Und nun schürt auch noch Greenpeace Zweifel an den amtlichen Beteuerungen, dass die Rückkehr in freigegebene Gebieten so sicher sei wie von der Regierung behauptet. Zum einen kritisieren die Umweltschützer in ihrem Bericht „ Fukushima Daiichi 2011-2021 “, dass 85 Prozent der Dekontaminierungszonen gar nicht dekontaminiert wurden, nämlich die Berge und Wälder der Region.

Zum anderen haben viele Greenpeace-Messstellen auch in zur Besiedlung freigegeben Regionen Strahlenwerte angegeben, die über dem ursprünglichen Versprechen der Regierung von einem Millisievert pro Jahr liegen. Zum Vergleich: In Deutschland liegt der Grenzwert für die effektive Dosis zum Schutz von Einzelpersonen der Bevölkerung beim gleichen Wert. Greenpeace fordert daher, die Wiederbesiedlung der Region zu stoppen und die Anwohner zu entschädigen.

Auch die Herausforderungen, die der Rückbau der Reaktoren stellen, bieten Anlass zu Streit. Kurzfristig ist das größte Problem das mit der Dekontaminierungsanlage behandelte strahlende Kühlwasser, das auch nach dem Herausfiltern der meisten radioaktiven Nukleide noch toxisches Tritium enthält.

Langfristig ist die Bergung der geschmolzenen Brennstäbe mit Robotern die größte Herausforderung. In solchem Maßstab wurde dies noch nie durchgeführt. Die Planer rechnen daher, dass es 30 bis 40 Jahre dauern wird, bis die Strahlung beseitigt sein wird. Aber Greenpeace nennt den Plan „wahnhaft“ und die Ziele „unerreichbar“.

„Es gibt keine glaubwürdigen Pläne für die Rückholung der Hunderte von Tonnen Kernbrennstofftrümmer, die in und unter den drei Reaktordruckbehältern verblieben sind“, schreibt die Organisation. Von einer Endlagerung ganz zu schweigen. Der Plan bedürfe daher einer grundlegenden Überprüfung, lautet das Fazit.

Auf die Auflösung des Meinungsstreits werden die Japaner noch Jahre warten müssen. Denn bislang gibt es keine Zeichen, dass eine der beiden Seiten eine Niederlage eingestehen wird. Der stille, aber zähe Widerstand gegen die Wiederbelebung der Atomkraft dürfte daher weitergehen. (bsc)