zurück zum Artikel

25 Jahre Netflix: Kriegserklärung via Spülstein

Karl-Gerhard Haas
Poznan,Poland,-,June,21.2021:,Tv,Television,Netflix,Logo,On

(Bild: Shutterstock.com/MAXSHOT.PL)

Am 29. August 2022 feiert der Video-Streaming-Pionier Netflix den 25. Geburtstag. Der Weg vom verlachten DVD-Versender zum Platzhirsch war steinig.

Nein, die Geschichte von den 40 US-Dollar Verspätungszuschlag für die Videokassette von "Apollo 13" als Ideengeber für Netflix ist ein PR-Märchen. Tatsächlich grübelten Marc Randolph und Reed Hastings Ende der 1990er in ihrer Fahrgemeinschaft, welche Art Geschäft man im kurz zuvor für die Allgemeinheit zugänglich gewordenen Internet erfolgreich betreiben könne. Beide hatten den Verlust ihrer Jobs vor Augen – die von Hastings 1991 gegründete Firma "Pure Software", deren Produkt Fehler im Code von Computerprogrammen aufspüren und vermeiden sollte, brauchte Hastings und Marketingleiter Randolph nach zwei Übernahmen nicht mehr lange.

Randolph war zuvor nach eigenem Bekunden "der schlechteste Immobilienmakler New Yorks", Hastings wurde durch den Verkauf immerhin vermögend. Beide schielten auf die ersten Erfolge des damals noch auf Bücher beschränkten Versenders Amazon. Auf einer ihrer letzten Fahrten zur alten Firma schlug Randolph personalisierte Baseballschläger, personalisierte Surfbretter, personalisiertes Hundefutter und personalisiertes Shampoo vor – jedes mal winkte der Ex-Marineinfanterist Hastings ab. Dann meinte Randolph: "Videoverleih per Post" – was Hastings zumindest für überlegenswert hielt.

Ohne große Recherche erkannte das Duo, dass das damals dominierende Heimvideomedium, die VHS-Kassette [1], für die Post suboptimal ist. Sie ist sperrig und vergleichsweise schwer, was das Porto in die Höhe getrieben hätte. Dazu wird sie schnell beim Versand beschädigt, die Bänder verschleißen und man muss sie im Zweifelsfalle vor dem nächsten Einsatz zurückspulen.

Aber zu jener Zeit begann die DVD-Revolution – in den USA und Japan erschienen nach holprigem Start die ersten Geräte und Discs [2] 1997. Dieser Scheibe waren die VHS-Schwächen fremd: Sie passt in ein Standard-Kuvert, ist robust, praktisch verschleißfrei – und zurückspulen muss man sie auch nicht. Randolph schickte eine technisch ähnlich aufgebaute CD [3] per Post an Hastings – dass sie unversehrt bei ihm ankam, war ihnen Bestätigung genug. Dazu kam, wie Randolph später sagte: "Es ist wichtig, einen Markt zu besetzen, in dem man bei Erfolg wachsen kann – idealerweise mit einer disruptiven Technologie." Die DVD war genau das.

Noch besser für das Duo: Zu jener Zeit beherrschte die Videothekenkette "Blockbuster" das US-Verleihgeschäft. Man fuhr oder lief zur Filiale, wählte aus den physisch vorhandenen Titeln und musste die Kassetten fristgerecht zurückbringen. Wenn nicht, kostete es die erwähnten Verspätungszuschläge. Abseits der Ballungsgebiete sind die USA dünn besiedelt, der Weg zur Videothek oft zu weit. Das Kundenpotential vergrößert sich schlagartig, wenn die Unterhaltung morgens im Briefkasten liegt und ein paar Tage später auch wieder per Post zurückgeschickt werden kann. Bonus für Netflix: Blockbuster verlieh zu jener Zeit keine DVDs.

Reed Hastings

Reed Hastings, CEO und Co-Gründer von Netflix.

(Bild: dpa, Bernd von Jutrczenka)

Randolph und Hastings brauchten für ihre Versandvideothek zwei Millionen US-Dollar Startkapital. Hastings war bereit, aus seinem Gewinn vom "Pure Software"-Verkauf 1,9 Millionen beizusteuern, die restlichen 100.000 sollte Randolph auftreiben. Für die von Randolph angedachten Investoren war eine Summe von je 25.000 Dollar überschaubar. Alex Balkanski, Mitgründer der Video-Kompressionsfirma C-Cube, lachte ihn aber aus. Er war sicher, bis 2002 würde man Filme streamen oder herunterladen – in ein Unternehmen, dessen Geschäftsmodell sich in den nächsten fünf Jahren erledigen würde, wollte er keinesfalls investieren. Die letzten 25.000 Dollar stammten von Randolphs Mutter, die wohl eher aus elterlicher Unterstützung denn aus Überzeugung dabei war.

Immerhin: Die Disc-Men von der Post hatten ihr Geld beisammen und legten am 29. August 1997 in einer ehemaligen Bank in Scotts Valley im US-Bundesstaat Kalifornien (rund 33 Kilometer Luftlinie südwestlich von San Jose) los. Sie entwickelten Front- und Backend ihrer Webseite von Grund auf; ihr "Server" bestand aus zusammengeschalteten Standard-PCs. Am 24. April 1998 ging die Seite online – nachdem Netflix-Mitarbeiter, angemeldet als normale Nutzer, in diversen Film-Foren Guerilla-Marketing für ihren Dienst betrieben hatten.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier ein externes Video (Kaltura Inc.) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Kaltura Inc.) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung [4].

Mit dem Server war eine Klingel verbunden, die bei jeder Bestellung Laut gab, aber schon nach einer Viertelstunde verstummte – bis Randolph und Hastings kapierten, dass ihr Server wegen des Kundenansturms zusammengebrochen war. Eilig schickten sie ihre Mitarbeiter in umliegende Computerläden, um weitere PCs zu besorgen – schlussendlich lagen am Ende des ersten Geschäftstags 137 Bestellungen vor.

Der Erfolg war ermutigend – aber schon bald merkten die Gründer, dass die Kundschaft die DVDs lieber für den Differenzbetrag kaufte, statt sie zurückzuschicken. Das brachte zwar kurzfristig Umsatz, aber nicht kontinuierlich. Langfristig profitabel erschien ihnen der Verleih.

Im Jahr der Geschäftsaufnahme setzte Netflix [5] bereits auf Eigenproduktionen und machte damit ungewollt Schlagzeilen. Nicht weit vom Unternehmen hatte sich eine Firma angesiedelt, die kurzfristig DVDs pressen konnte. Gerade war die Affäre um den damaligen US-Präsidenten Clinton und die Praktikantin Monica Lewinsky [6] abgeschlossen, die Aufnahmen der Anhörungen verfügbar. Netflix bot sie seiner Kundschaft auf Scheibe an. In der Hektik geriet im Presswerk unter die unetikettierten Clinton-DVDs ein Schwung Pornos. Als Netflix das bemerkte, entschuldigte man sich bei den Kunden und bot ihnen an, die Discs gegen solche mit dem bestellten Inhalt umzutauschen, wovon aber niemand Gebrauch machte.

Im selben Jahr wurde Amazon-Gründer Jeff Bezos auf Netflix aufmerksam und wollte die Firma für 14 bis 16 Millionen Dollar kaufen. Randolph war dafür, Hastings dagegen. Schlussendlich gaben sie das Verkaufsgeschäft, das sie ohnehin abstoßen wollten, an Amazon – im Gegenzug sollte Amazon diejenigen zu Netflix schicken, die DVDs nicht kaufen, sondern leihen wollten.

"Bright" (2017) [7] war die erste Blockbuster-Produktion, in die Netflix einen dreistelligen Millionenbetrag investiert hat.

(Bild: Netflix)

Ende 1998 überzeugte Hastings Randolph, als Vorstandsvorsitzender abzudanken und stattdessen Geschäftsführer zu werden. Unter Hastings’ Ägide zog Netflix ins nur rund 15 Kilometer südwestlich von San Jose gelegene Los Gatos; mit einer 30-Millionen-Dollar-Finanzspritze der "Groupe Arnault" im Juni 1999 restrukturierte Netflix sein Verleihsystem. Für einen Pauschalpreis von 16 Dollar pro Monat konnten Nutzer nun so viele Discs leihen, wie sie wollten – nur durften nie mehr als vier gleichzeitig bei der Kundschaft sein. Und Netflix entwickelte Empfehlungsalgorithmen, um das Publikum bei der Stange zu halten – damals Neuland.

Das half – aber im Oktober 2000 platzte die Dotcom-Blase [8]. Dieselben Investoren, die Monate zuvor noch wie nicht gescheit jedem Start-up Geld hinterherwarfen, solange es nur "irgendwas mit Internet" machte, drehten plötzlich auch aussichtsreichen Unternehmen den Geldhahn zu. Netflix aber brauchte noch Cash. Der erwähnten Videothekenkette Blockbuster ging es zu diesem Zeitpunkt blendend – die Netflix-Gründer wollten ihr Unternehmen für 50 Millionen Dollar an Blockbuster verkaufen. Dessen Chefetage lachte Netflix nur aus – schon zum damaligen Zeitpunkt eine Torheit, denn der Verleih in Filialen und der per Post hätten sich hervorragend ergänzt, Blockbuster mit Netflix sofort Zugang zum Internetgeschäft gehabt.

Insgesamt war das Umfeld für Netflix aber günstig, denn DVD-Spieler durchdrangen die Märkte rasend schnell – 2001 gab es bereits die ersten Modelle für rund 300 US-Dollar. So ging Netflix im Mai 2002 an die Börse, um frisches Geld zu sammeln. In einem Interview kurz danach äußerte Hastings, Blockbuster werfe auf Netflix "everything but the kitchen sink" (wörtlich: alles außer dem Spülbecken, sinngemäß: "Sie greifen uns an, wo sie können"). Wenige Tage darauf schickte Blockbuster tatsächlich ein Spülbecken an Netflix – eine offene Kriegserklärung. Gründer Randolph verließ nach dem Börsengang das Unternehmen, um sich neuen Projekten zu widmen – und Blockbuster war 2010 pleite.

Randolphs Rückzug schadete Netflix nicht: 2006 verklagte man erfolgreich Blockbuster, weil dessen – viel zu spät gestarteter – DVD-Verleih sich etwas zu offensichtlich an Netflix’ Arbeitsweise orientierte – die hatte Netflix patentiert bekommen. Und 2007 waren in den meisten Teilen der USA die Internetverbindungen schnell und günstig genug, um aus der Idee der digitalen Videothek endlich Wirklichkeit werden zu lassen. Zusätzlich kamen Heimkino-PCs und eine neue Generation von Spielekonsolen auf – die Rechenleistung von wohnzimmerkompatibler Hardware reichte endlich für Echtzeit-Videodekodierung.

Microsoft und Netflix beschlossen 2008, Filme via Internet auf der Xbox 360 anzubieten; ab 2009 kamen Smart-TVs hinzu und die Fernseher konnten sich direkt mit Streamingdiensten verbinden. Zunächst war Netflix eine unter vielen Optionen in den jeweiligen "Smart"-Menüs. Seit 2011 gibt es in den USA die Netflix-Taste auf TV-Fernbedienungen; in Europa, wo der Dienst in vielen Ländern erst 2014 startete, erschienen 2015 die ersten Fernseher mit dem rotweißen Button. Für die TV-Hersteller, so der Sprecher eines Anbieters zu heise online, ist der Netflix-Knopf "Segen und Verpflichtung. Netflix zahlt uns dafür, was bei den knappen Margen in diesem Geschäft hilft. Gleichzeitig kann der Dienst aber gegenüber den Geräteherstellern auch Druck ausüben, denn die Zertifizierung der Netflix-App auf den jeweiligen TVs kann sehr flink, aber auch sehr langsam gehen. In einem Geschäft mit halbjährlichem Modellwechsel ist Zeit Geld."

Zum Beginn seines Streamingdienstes war Netflix allein auf weiter Flur, bekam Filmrechte also noch günstig. Aber den Machern war klar, dass sie bald mit Disc- und Pay-TV-Anbietern und anderen Streamingdiensten um Rechte buhlen – eigenes Programm musste her. 2011 riskierte Netflix für seine erste große Serie die Existenz des Unternehmens: Die Staffeln 1 und 2 des 2013 veröffentlichten "House of Cards" kosteten 100 Millionen Dollar – wäre die Serie gefloppt, wäre es das Ende von Netflix gewesen.

Bekanntlich war sie ein Erfolg – ein Missgriff passierte dem Unternehmen im US-Markt 2011 dennoch: Es spaltete den immer noch gefragten DVD-Verleih als "Qwikster" ab – Netflix-Kunden interagierten plötzlich mit zwei Portalen, zwei Nutzerkonten und einem um 60 Prozent höheren Preis, wenn sie Streaming und Verleih nutzen wollten. Das kostete die Firma 800.000 Abonnenten im betreffenden Quartal – nach nur einem Monat zog man Qwikster den Stecker.

Aktuell ist der Streamingmarkt umkämpft, Netflix einer von vielen Anbietern. c’t-Heimkino- und Streaming-Experte Nico Jurran: "Apple hat vollere Kassen als Netflix, Disney ein prall gefülltes Film- und Serienarchiv – und mit 'Star Wars' und Marvel mehrere Franchises im Portfolio, die auf absehbare Zeit die Lizenz zum Gelddrucken sind. In der Cartoon-Reihe ‘South Park’ machte man sich schon 2017 über Netflix’ Bedarf an Stoffen lustig. Dort meldet sich das Callcenter mit ‘Netflix – you’re green lit!’ [9] und bietet den South-Park-Kinderfiguren ohne jede Prüfung eine sechsteilige Serie an."

2020 profitierte Netflix von coronabedingten Ausgangssperren, was 2021 schon wieder verebbte. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine deaktivierte das Unternehmen die 700.000 Nutzerkonten in Russland. Kunden beklagen Preiserhöhungen und das Ende des lange tolerierten Teilens der Zugangsdaten – nach Bekanntgabe der Zahlen fürs erste Quartal 2022 fiel die Aktie um 35 Prozent, was einem Marktverlust von 55 Milliarden US-Dollar entsprach. Die aktuellen Aussichten sind allerdings schon wieder rosiger [10].

Aber Bezahlfernsehen, gleich von welchem Anbieter, bleibt Luxus – in Zeiten galoppierender Inflation verzichtet man darauf zuerst. Manch einer wird sich der passabel gefüllten Mediatheken der Gebührensender erinnern oder des DVD- oder Blu-ray-Spielers, der auf dem Dachboden verstaubt – sowie der Tatsache, dass man sich im privaten Umfeld die Discs gegenseitig ausleihen kann.

Einige gebeutelte Kinobesitzer werden beim Kurssturz vom Frühjahr heimlich jubiliert haben, für die Filmbranche insgesamt sind Dienste wie Netflix aber ein Segen. Titel, die es nie auf DVD geschweige denn in die Kinos schaffen würden, haben in elektronischen Videotheken die Chance, ihr Publikum zu finden; von den Eigenproduktionen profitieren Filmschaffende auf der ganzen Welt.

Ob es Netflix in 25 Jahren noch gibt? Noch ist es mit 221 Millionen Abonnenten in über 190 Ländern der größte Streamingdienst der Welt – Disney addierte in einer kürzlichen Erfolgsmeldung drei seiner Dienste und zählte nicht Abonnenten, sondern Abos [11]. Viel wird davon abhängen, ob das Haus die Balance zwischen attraktivem Programm und akzeptablen Preisen findet und hält. Leer ist Netflix’ Kriegskasse nicht – für den Zeitraum von 2021 bis 2023 steckt man eine halbe Milliarde Euro in Eigenproduktionen.

(bme [12])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7244715

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/hintergrund/Videorekorder-Ein-Bild-von-einem-Band-6011251.html
[2] https://www.heise.de/news/Warten-auf-Codot-284720.html
[3] https://www.heise.de/news/40-Jahre-CD-Die-silberne-Klang-Revolution-4327845.html
[4] https://www.heise.de/Datenschutzerklaerung-der-Heise-Medien-GmbH-Co-KG-4860.html
[5] https://www.heise.de/thema/Netflix
[6] https://www.spiegel.de/politik/mitleidsbonus-fuer-den-luegner-a-0c2a9bf7-0002-0001-0000-000008002220
[7] https://www.heise.de/news/Bright-Fantasy-Cop-Action-mit-Will-Smith-und-Orks-3924574.html
[8] https://www.heise.de/news/Zehn-Jahre-Dotcom-Bust-Als-die-Blase-platzte-951796.html
[9] https://www.youtube.com/watch?v=l-PQ2J3uQe0
[10] https://www.heise.de/news/Netflix-verliert-weniger-Kunden-guenstigeres-Abo-mit-Werbung-Anfang-2023-7184137.html
[11] https://www.heise.de/news/Disney-holt-auf-zu-Netflix-Streaming-Angebot-beschert-hohe-Umsatzsteigerung-7216756.html
[12] mailto:bme@heise.de