Agile Softwareentwicklung: Kanban effektiv einsetzen und Fallstricke vermeiden

Im Interview geht Kanban-Pionier David J Anderson auf die Hintergründe der Methode ein und erklärt, was zu einer erfolgreichen Umsetzung nötig ist.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 12 Kommentare lesen

(Bild: LanKS/Shutterstock.com)

Lesezeit: 9 Min.
Inhaltsverzeichnis

Kanban ist aus der Welt der agilen Softwareentwicklung nicht mehr wegzudenken. Als Begründer der Methode in der IT gilt der Buchautor und Organisationstrainer David J Anderson. Im Gespräch mit heise Developer teilte er Einsichten in die Entstehung, den aktuellen Stand und mögliche Zukunftsaussichten von Kanban. Zur erfolgreichen Implementierung lässt sich das von Anderson mitbegründete Kanban Maturity Model heranziehen, das dafür eine schrittweise Orientierungshilfe bietet. Es soll dabei helfen, den organisatorischen Reifegrad eines Unternehmens zu bestimmen und voranzutreiben und somit bekannte Fallstricke beim Einsatz von Kanban zu vermeiden.

heise Developer: Im Jahr 2005 etablierten Sie die Verwendung von Kanban in der Softwareentwicklung, fünf Jahre später erschien Ihr Buch "Kanban: Successful Evolutionary Change for Your Technology Business" ("Kanban: Evolutionäres Change Management für IT-Organisationen"). Wenn Sie heute ein ähnliches Buch schreiben würden, was würden Sie daran ändern?

David J Anderson: Um ehrlich zu sein, hat sich wenig verändert. Obwohl ich knapp zwei Kapitel über Feedback-Mechanismen wie Operations Review geschrieben habe, musste ich diese deutlicher ausführen und habe eine sechste generelle Praktik zu dem ursprünglichen Fünfer-Set hinzugefügt. Ich würde heute STATIK (the systems thinking approach to implementing Kanban) hinzufügen. Weglassen würde ich vermutlich den frühen Abschnitt zur Geschichte der Community und zu ähnlichen Arbeiten von anderen, die inzwischen zum Großteil in Vergessenheit geraten sind. Das sechste Kapitel zu Work Item Types und Workflow würde ich etwas deutlicher und offensichtlicher gestalten.

heise Developer: Wie ist die Entstehungsgeschichte von Kanban, das häufig mit der japanischen Automobilindustrie assoziiert wird, und wie gelangte es in die Welt der Softwareentwicklung?

Anderson: Das Konzept der Signalkarten ist viel älter als die Automobilherstellung. Es wurde in Japan schon seit Hunderten von Jahren verwendet und das Konzept von Strichlisten ist auch in Europa weit verbreitet. Toyota hat diese Strichlisten oder Signalkarten für den Einsatz in der Automobilproduktion modifiziert. Davon inspiriert habe ich die gleiche Technik für die Wissensarbeit, für Dienstleistungen und allgemein für die Industrie der immateriellen Güter angepasst.

heise Developer: Welche Missverständnisse herrschen rund um Kanban, die aufgrund falscher Erwartungen zu Enttäuschung führen könnten?

Anderson: Kanban soll der verbesserten Erbringung von Dienstleistungen dienen, etwa der Softwareentwicklung, und die Kanban-Methode verwendet virtuelles (oder immaterielles) Kanban sowohl für diesen Zweck als auch als Hauptantrieb für evolutionäre Verbesserungen. Man sollte also zunächst erkennen, dass man in einer Branche arbeitet, die immaterielle Güter anbietet, und dass die Kanban-Methode dabei helfen soll, diese Dienstleistungen nach dem Motto "start with what you do now" in einem evolutionären Prozess schrittweise zu verbessern.

heise Developer: Welche Tipps können Sie geben, wenn ein Unternehmen vergeblich versucht hat, Kanban-Methoden zu implementieren?

Anderson: Es gibt zwei häufige Gründe des Scheiterns: das False Summit Plateau (Plateau des falschen Gipfels) und Over-Reaching (Übererfüllung). Der "falsche Gipfel" entsteht durch die Annahme, dass es bei Kanban nur um eine visuelle Tafel oder eine einfache Workflow-Visualisierung gehe. Das kann zu der Frage "Wir haben Kanban umgesetzt und es war gut, was nun?" führen, deren Antwort lauten sollte: "Mehr Kanban". Das Problem der Übererfüllung tritt eher auf, wenn professionelle Coaches involviert sind und mit ihrem Wissen angeben wollen. Sie entwerfen Kanban-Systeme und -Implementierungen, die zu viel und zu früh für die Organisation sind, was dazu führt, dass diese daran ersticken. Die Folge ist eine festgefahrene, oft abgebrochene Implementierung.

Wir haben das Kanban Maturity Model entwickelt, um diese beiden Fehlerursachen zu beheben. Es gibt kein schlechtes Kanban, sondern nur dessen unangemessene Umsetzung, bei der die Praktiken schlecht auf die organisatorische Reife abgestimmt sind.

heise Developer: Was hat es mit dem Kanban Maturity Model auf sich – wie ist es entstanden und wodurch zeichnet es sich aus?

Anderson: Das Kanban Maturity Model (KMM) definiert ein Modell der organisatorischen Reife. Es ist nicht Kanban selbst, das reift, sondern wir beobachten einen Reifegrad in Organisationen. Geeignete Kanban-Praktiken werden dann auf den Reifegrad der Organisation abgestimmt.

Das KMM bildet einen Leitfaden, einen Fahrplan für Berater, Coaches oder Manager mittlerer und großer Unternehmen, die ihr Unternehmen umgestalten und verbessern wollen. Es stellt sieben Stufen der organisatorischen Reife anhand der sechs allgemeinen Kanban-Praktiken dar, um eine angemessene Anwendung dieser Praktiken und eine erfolgreiche Umsetzung des Ansatzes zu gewährleisten.

Die Entstehung des KMM basiert auf den beiden zuvor erwähnten möglichen Fehlerursachen. Ermöglicht wurde das Modell durch die Sammlung von Fallstudien innerhalb von 10 bis 15 Jahren und die Erfahrung in der Arbeit mit Unternehmen. Gemeinsam mit Teodora Bozheva beobachteten wir eine Korrelation zwischen Erfolgs- und Misserfolgsmustern und den beobachtbaren Reifegraden von Organisationen. Wir erkannten, dass es einen Bedarf an Leitlinien für die Auswahl geeigneter Kanban-Praktiken und die Förderung evolutionärer Veränderungen gab. Zu viele Berater und Coaches sowie Unternehmenssponsoren wollen schnell und hart durchgreifen und revolutionäre Veränderungen einführen – "too much, too soon" führt oft zum Scheitern. Das KMM soll dabei helfen, den aktuellen Reifegrad eines Unternehmens zu ermitteln und herauszufinden, was der nächste Schritt zur Weiterentwicklung sein sollte.

Heise präsentiert: Kanban Day 2022
Kanban Day 2022

(Bild: Kanban Day am 22. Februar 2022)

Kanban ist mehr als Projektmanagement – das zeigt der von Heise und dpunkt.verlag ausgerichtete erste Kanban Day am 22. Februar 2022, der einen Schwerpunkt auf Kanban als Managementmethode legt. In der Online-Konferenz teilen Expertinnen und Experten ihr Wissen darüber, wie Kanban sich gewinnbringend in Unternehmen einsetzen lässt. Wer Kanban effektiv einsetzen will, ist bei der Online-Konferenz genau richtig.

Aus dem Programm

  • Das Schweizer Messer zur Unternehmensverbesserung
  • Yes, we Kanban: Warum Kanban gerade fĂĽr Teams wichtig bleibt
  • Portfolio Kanban – das groĂźe Ganze sehen
  • Flow in der Strategiefindung
  • Leadership auf allen Ebenen
  • Navi fĂĽr ihren Change – das Kanban Maturity Model
  • Lernen im System: Kanban-Metriken in der Praxis

Flankierender Workshop

heise Developer: Mit welcher Frage zur Implementierung von Kanban werden Sie bei Ihrer täglichen Arbeit am häufigsten konfrontiert?

Anderson: Womit sich die meisten Menschen schwer tun, ist die korrekte Identifizierung von Work Item Types – was ist die abstrakte Bedeutung eines Tickets auf einem Board? Als Hilfestellung fordere ich die Schüler auf, die Typen von Work Items zu identifizieren, die sie in einem Café vorfinden könnten: Espresso-Getränke, Filterkaffee, Tees, Backwaren, herzhafte Speisen, die erhitzt oder getoastet werden müssen, und so weiter. Wir versuchen auch, die am häufigsten gestellten Fragen in Blogartikeln auf unseren Websites zu beantworten. Einer unserer Artikel kann dabei helfen, das Konzept der Classes of Service besser zu verstehen.

David J Anderson ist ein bekannter Kanban-Experte und -Theoretiker sowie CEO des Schulungsunternehmens David J Anderson School of Management. Im Laufe seiner langen Karriere im IT-Bereich arbeitete er zunächst bei IBM, Sprint, Motorola und Microsoft, bevor er im Jahr 2008 seine eigene Firma gründete. Er ist der Pionier der Kanban-Methode, des Fit-for-Purpose Frameworks und Enterprise Services Planning und Autor erfolgreicher Fachbücher wie "Die Essenz von Kanban – kompakt", "Kanban: Evolutionäres Change Management für IT-Organisationen" und "Fit for Purpose: Wie Unternehmen Kunden finden, zufriedenstellen und binden".

Die am häufigsten gestellte Frage lautet: "Kann ein Ticket auf dem Board rückwärts bewegt werden?" Die Antwort darauf ist: "Ja, aber es kommt darauf an." Organisationen mit hohem Reifegrad würden Tickets nicht rückwärts wandern lassen, sondern sie würden einen "Stop-the-Line"-Ansatz (andon) verfolgen, ähnlich dem, den wir bei Toyota sehen. Toyota ist jedoch ein Unternehmen der Reifegradstufe 5 und hat die Reife, das Band zu stoppen. Für viele unserer Kunden ist es richtig, die Tickets rückwärts zu verschieben. Dazu finden sich auf unserer Website weitere Informationen.

heise Developer: In welche Richtung wird sich Kanban Ihrer Meinung nach in Zukunft entwickeln?

Anderson: Wir beobachten, dass die Kanban-Methode in vielen Bereichen der Dienstleistung und der immateriellen Güter angewandt wird: Architekten, Anwaltskanzleien, Buchhaltungsabteilungen, Werbeagenturen, Marktforschungsunternehmen, Erdölexploration und Geophysik, pharmazeutische Forschung, Fernseh- und Medienproduktion und Personalwesen, um nur einige zu nennen. Unsere Herausforderung besteht darin, die Fachsprache zu entfernen und die Methode einem möglichst breiten Publikum zugänglich zu machen. So haben wir mit unserem Partner Lilian Mateu begonnen, Schulungsangebote für vertikale Märkte zu entwickeln, zum Beispiel Kanban für Juristen.

heise Developer: Können Sie weitere Details zu Ihren aktuellen Projekten nennen?

Anderson: Natürlich hat die Corona-Pandemie unser Geschäft verändert und es hat sich ins Internet verlagert. Das hat uns viele neue Möglichkeiten eröffnet, und die Kombination von Online-Plattformen wie KMM Plus mit Online-Schulungen wird in den kommenden Jahren ein wichtiger Schwerpunkt für uns sein. Diese Plattform haben wir bei meiner Unternehmensgruppe, Mauvius Group, ins Leben gerufen. Sie war ursprünglich als Lernplattform mit der Idee eines Online-Buchs konzipiert, um Menschen aus aller Welt Zugang zu den neuesten, ständig aktualisierten KMM-Buchinhalten zu bieten – ohne Versand oder Wartezeit direkt auf den Laptop. Da wir aber viele Möglichkeiten für die Lernplattform gesehen haben, haben wir sie zu einer kompletten Plattform mit gemappten Inhalten inklusive Suchfunktion und Videos weiterentwickelt, die die Konzepte erklären. Sie richtet sich an drei Zielgruppen: erstens Kanban-Expertinnen und -Experten, zweitens Trainer und drittens Coaches beziehungsweise Berater.

Was das Training betrifft, so sehen wir eine Nachfrage nach unserem Material für Unternehmensführung und Produktmanagement. Unsere zwei neuen Kurse an der David J Anderson School of Management – Kanban Product Professional und Kanban Leadership Professional – können alternative Lernpfade bieten, die man einschlagen kann, nachdem man ein Kanban Management Professional geworden ist. Sie sind für diejenigen gedacht, die ihr Wissen mehr in den Produktbereich vertiefen wollen, um ihre Kunden besser zu verstehen, oder mehr in die Führungsaspekte.

heise Developer: Herr Anderson, wir danken für das Gespräch!

Das Interview führte Maika Möbus, Redakteurin bei heise Developer.

(mai)