Bildung: Mit gedruckten Texten lernen Kinder besser lesen

Digitale Medien verändern, wie wir lesen – und wie Kinder in der Schule lesen lernen. Ob das nun gut ist oder schlecht, hängt nicht nur von der Dosis ab.

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(Bild: fizkes/Shutterstock.com)

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Eine wachsende Gruppe von Experten versucht herauszufinden, wie das Zusammenspiel von Laptops, iPads oder Smartphones und klassischem Leseunterricht aussehen sollte. Was spricht für das Buch, was für den Bildschirm? Die Forschung steht noch am Anfang. In der Praxis haben Lehrkräfte bisher oft kaum Anleitungen, wie die optimale Mischung von Bildschirm und Papier für Leseanfänger aussehen sollte. Also improvisieren sie – oder verzichten ganz auf die digitalen Möglichkeiten. Das berichtet das Magazin MIT Technology Review in seiner aktuellen Ausgabe 6/2023.

Die aktuelle IGLU-Studie zeigt, dass in Deutschland nur 30 Prozent der Viertklässler mindestens einmal pro Woche auf einem digitalen Medium lesen. In skandinavischen Ländern liegt der Anteil bei 70 Prozent. "Das liegt auch an der Ausstattung der Schulen. Dass bei uns jedem Kind ein digitales Endgerät zur Verfügung steht, ist eher die Ausnahme", sagt Ramona Lorenz von der TU Dortmund, Co-Autorin der Studie.

Für das Lesen zwischen Buch und Bildschirm hat die Neurowissenschaftlerin Maryanne Wolf den Begriff "zweisprachiges Gehirn" geprägt. "Noch liegen nicht alle Antworten vor, aber wir wissen, dass Print langsamere, tiefere Prozesse im lesenden Gehirn begünstigt. Ein Bildschirm lässt sich also ergänzend einsetzen, um bestimmte Fähigkeiten zu lehren, aber ein Kind sollte nicht allein am Bildschirm lesen lernen", sagt sie.

Dieser Text stammt aus MIT Technology Review 6/2023

ChatGPT und Co. stellen infrage, inwiefern die klassische Wissensvermittlung im Klassenzimmer noch sinnvoll ist, wenn eine KI in Zukunft nahezu alles Wissen der Welt innerhalb von Sekunden in geforderter Form liefert. Wie kann Schule darauf reagieren? Dieser Frage geht die neue Ausgabe von MIT Technology Review nach. Highlights aus dem Heft:

Studien zeigen außerdem, dass Eltern und Lehrer einen wertvollen Beitrag leisten können. Kinder, die bereits Wörter kennen, lesen am besten gemeinsam mit Erwachsenen. So bekommen sie Feedback, können über Inhalte sprechen, sich gemeinsam Bilder ansehen. Über einen Bildschirm lasse sich eine solche menschliche Interaktion nur bedingt nachahmen, sagen Forschende wie Wolf.

Dass Eltern immer seltener gemeinsam mit ihren Kindern lesen, gilt als ein Grund dafür, dass die aktuelle IGLU-Studie für Deutschland erschreckend ausfällt. Etwa ein Viertel der Viertklässler kann danach nicht flüssig lesen und sich selbstständig Informationen aneignen. Die Lesekompetenz von Grundschülern liegt knapp unter dem OECD-Durchschnitt.

Auch das Leseverständnis älterer Jugendlicher leidet, wenn sie am Bildschirm lesen: Eine große Meta-Analyse von 33 verschiedenen Studien aus dem Jahr 2019 ergab, dass Informationstexte besser verstanden werden, wenn diese auf Papier präsentiert werden. Die jüngste Pisa-Studie der OECD bestätigt das: Schüler, die lieber auf Papier als elektronisch lesen, schnitten im Durchschnitt besser ab.

Dabei spielt auch das Alter eine wichtige Rolle. Kleine Kinder, die gerade ihren "Leseschaltkreis" im Gehirn aufbauen, profitieren am meisten von Büchern und menschlicher Interaktion. Ältere Kinder hingegen können digitale Medien nutzen, um ihre Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Ihnen gelingt es leichter, zwischen der gedruckten und der digitalen Welt hin- und herzuschalten.

Zum Lesenlernen gehört es jedoch nicht nur, Wörter zu buchstabieren, auszusprechen und zu verstehen. Die eigentliche Arbeit beginne erst danach, beim "vertieften Lesen", sagt Maryanne Wolf. Dabei handelt es sich um kognitive und affektive Prozesse, die ganze Textabschnitte erfassen, die vorhersagen, was als Nächstes kommt, und die dadurch eine blitzschnelle Wahrnehmung von sinnhaften Zusammenhängen erlauben. Diese interaktiven Prozesse speisen sich gegenseitig und beschleunigen das Verständnis.

Und sie sind heute schwerer zu vermitteln als früher, denn die Lesegewohnheiten haben sich geändert. Kinder und Jugendliche – und, wenn wir ehrlich sind, auch wir Erwachsenen – sind Meister im Überfliegen von Online-Artikeln, Facebook-Posts oder Chatnachrichten geworden und springen von einem Browser-Tab zum nächsten. Lernen Kinder nun ausschließlich am Bildschirm lesen, argumentiert Wolf, lernten sie vielleicht niemals, vertieft zu lesen.

Der Didaktik-Experte und Buchautor Doug Lemov glaubt, dass viele Schüler der Mittel- und Oberstufe nicht mehr die nötige Aufmerksamkeitsspanne haben, um sich länger auf einen Text zu konzentrieren. Deshalb ermutigt er Lehrerinnen und Lehrer, in ihren Klassenzimmern "Lowtech-Hightext"-Umgebungen einzurichten, mit Büchern, Stiften und Papier. Darin können die Schüler langsam ihre Aufmerksamkeitsspanne steigern, indem sie nichts anderes tun, als ein Buch zu lesen oder einen Text zu schreiben – auch, wenn es anfangs nur für ein paar Minuten gelingt.

Der Kognitionswissenschaftler Daniel Willingham mag indes nicht so ganz an die Theorie der gesunkenen Aufmerksamkeitsspanne durch die digitalen Technologien glauben. Womöglich langweilen sich Lesende schlicht schneller: "Es ist die Erwartung, dass es immer etwas neues Interessantes zu hören, zu sehen oder zu lesen geben muss und dass diese interessante Erfahrung mit geringem Aufwand zu erreichen ist." Vertieftes Lesen dagegen erfordere "kognitive Geduld", die für Kinder oft anstrengend ist, denn die Belohnung kommt mitunter erst viele Seiten später.

(anh)