Biotechnik: Herr über Milliarden

In Jürgen Ecks Brain AG schürfen unzählige Mikroben Gold oder verwandeln CO2 in Rohstoffe. Mit ihnen will er die Industrie umkrempeln.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Biotechnik: Herr über Milliarden

(Bild: Luise Böttcher / Brain AG)

Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Klaus Jacob
Inhaltsverzeichnis

Das Herz des Unternehmens schlägt im Keller. Im Kunstlicht reiht sich Gefrierschrank an Gefrierschrank – auf den meisten zeigt das Thermometer minus 80 Grad.

Mehr Infos

Darin lagern Zigtausende Mikroorganismen, Naturstoffe und Enzyme in winzigen Schalen, sogar einzelne DNA-Abschnitte sind darunter. Die Brain AG in Zwingenberg, am Fuß des Odenwalds, lebt von diesem Schatz. "Wir haben eines der weltweit größten Bioarchive, wenn nicht das größte", sagt CEO Jürgen Eck. Der Baukasten aus der Natur soll von einer Produktion, die Rohstoffe und fossile Energien verbraucht, in eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft führen. Denn die Mikroben in den Kühltruhen können nach Edelmetall schürfen und Bioplastik herstellen, sie produzieren Enzyme zur Wundversorgung oder neuartige Süßstoffe, die im Gegensatz zu Zucker nicht dick machen.

Das deutsche Unternehmen hat es auf diesem Gebiet schon weit gebracht, es ist das Aushängeschild der industriellen Biotechnologie in Europa. Aber der Weg dahin war weit. Es ist keine leichte Aufgabe, die Industrie, diesen behäbigen Tanker, umzusteuern. Know-how allein reicht nicht. Viel wichtiger, merkten die Gründer bald, ist Durchhaltevermögen. Die Geschichte der Brain AG ist damit nicht nur eine vom Potenzial der Bioökonomie, sondern ebenso eine von den zähen Widerständen, die sich ihren Pionieren entgegenstellen.

Jürgen Eck hat das Unternehmen zusammen mit Holger Zinke gegründet. Das Datum hat er noch genau im Kopf: 1. Oktober 1993. Die beiden Mikrobiologen, Spezialisten für Enzyme und Naturstoffe, hatten sich nach ihrer Promotion an der TU Darmstadt mit einem Startkapital von 300.000 Mark selbstständig gemacht, ohne einen einzigen Investor. Sie hatten weder Patente noch Produkte, die sie verkaufen konnten. Aber sie waren von sich überzeugt, das zeigt schon der Name, den sie ihrem Unternehmen gaben: Brain, eigentlich die Abkürzung für Biotechnology Research And Information Network – aber eben auch das englische Wort für Gehirn. Und Köpfchen brauchten sie, denn sie gingen ganz neue Wege.

Damals war der Begriff Bioökonomie nur Insidern bekannt, und die Biotechnologie steckte noch in den Kinderschuhen. Fast alle Experten suchten sich damals einen Platz in der Pharmabranche, heute würde man sagen: der roten Biotechnologie, die medizinische Anwendungen erforschte. Doch Eck und Zinke hatten sich vorgenommen, industrielle Fragestellungen zu bearbeiten, also die weiße Biotechnologie anzusteuern.

Wenn der drahtige Mittfünfziger Eck – sein Kollege Zinke ist inzwischen ausgeschieden – von diesen Anfängen erzählt, spielen das Geld und organisatorische Probleme eine große Rolle. Start-ups hatten damals in Deutschland keinen leichten Stand. Eck hatte im Jahr 1993 Mühe, auch nur ein Labor an der Hochschule Darmstadt anzumieten, geschweige denn Auftraggeber zu generieren. "Wir bekamen in den ersten Jahren kaum einen Termin in der chemischen Industrie", sagt er. Fast ein halbes Jahr dauerte es, bis der erste Auftrag kam: Die Gewinnung eines Proteins aus der Mistel für die Kölner Firma Madaus, ein auf pflanzliche Pharmazeutika spezialisiertes Unternehmen. Danach folgten natürliche Inhaltsstoffe für die Haarpflege für die Firma Wella oder ein Enzym für Henkel, das Waschen bei niedrigen Temperaturen ermöglicht.

15 Jahre vergingen, und in dieser Zeit knüpften Eck und Zinke Kontakte, lernten die Bedürfnisse der Industrie kennen, sammelten Erfahrungen und erweiterten ihr Bioarchiv. Denn Eck wollte mehr, als nur Auftragsforschung zu betreiben. Er wollte auch eigene Ideen verfolgen. 2008 sah er, gestützt auf Investorengelder, die Chance gekommen. Inzwischen besitzt seine Firma mehr als 350 Patente und hat 15 mögliche Produkte in der Entwicklung: Vier beruhen auf Enzymen, drei auf Mikroorganismen und acht auf bioaktiven Substanzen, also Stoffen mit gesundheitsfördernder Wirkung wie Vitamine.

2016 dann ging Brain an die Börse, frisches Geld füllte die Kassen. Inzwischen hat die AG 235 Mitarbeiter und wächst. Der Umsatz hat im letzten Geschäftsjahr rund 68 Millionen Euro erreicht. Allerdings stehen unter dem Strich noch immer Verluste. Die Früchte seiner Arbeit wird das Unternehmen wohl erst in einigen Jahren einfahren können.

Wie langwierig es ist, mit einem industriellen Bioprodukt Geld zu verdienen, zeigt sich zum Beispiel an den von Brain entwickelten alternativen Süßstoffen. Schon vor Jahren hatten Eck und seine Kollegen den großen Markt erkannt, auch wenn damals die Diskussion um Zucker als Suchtmittel und die grassierende Fettleibigkeit noch längst nicht so hochgekocht war wie heute. Die Brain-Experten stellten zunächst eine Liste der Eigenschaften zusammen, die der neue Süßstoff haben sollte: keine Kalorien, nicht bitter wie Stevia, nicht abführend und gut verträglich.

Zudem durfte er keine Karies verursachen und musste für Diabetiker geeignet sein. Nur: Wie sollte man die Kandidaten testen? Menschen können nicht Abertausende Naturstoffe durchprobieren, zumal wenn deren medizinische Unbedenklichkeit noch gar nicht geklärt ist.

So entstand etwas völlig Neues: ein menschliches Geschmacksmodell. "Wir haben Geschmackszellen aus der Zunge von Freiwilligen isoliert", erzählt Eck. Die Zellen wurden vermehrt und so aufbereitet, dass sie ihre Informationen mithilfe eines Fluoreszenzsignals preisgaben. Was bislang nur für zwei Geschmacksnoten funktioniert, soll künftig universell einsetzbar sein: Ob süß, sauer, bitter, umami oder salzig – der künstliche Gaumen verrät dann alles in exakten Zahlen. Der Geschmack wird messbar. Eck ist stolz auf dieses patentierte Werkzeug: "Das ist sonst niemandem auf der Welt gelungen."

"Wir haben ein paar Hunderttausend Stoffe durchgetestet", sagt Eck. Heraus kam schließlich ein kleines Eiweißmolekül, ein Peptid, das 1200-mal süßer ist als üblicher Zucker. Daneben hat Brain einen Naturstoff gefunden, der die Wirkung von Zucker verstärkt. Denn manchmal ist Zucker wegen seiner Konsistenz zumindest in geringen Mengen nötig, etwa damit Crunchy-Müsli knackig ist. In seiner "Sweet-Box" hat das Unternehmen inzwischen mehr als 100 Naturstoffe gesammelt, die Zucker ersetzen oder ergänzen können.

Mehrere Industriepartner sind bereits eingestiegen. Dennoch wird es noch bis etwa 2021 dauern, bis Limo, Eiscreme oder Schokolade mit dem natürlichen Süßstoff auf den Markt kommt. Denn die Zulassung durch die Food and Drug Administration in den USA und die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit dauert mehrere Jahre. Wird er danach endlich in größerem Maßstab eingesetzt werden, fördert der neue Süßstoff nicht nur die schlanke Linie, sondern leistet auch einen Beitrag zum Umweltschutz: Denn die Produktion benötigt keinen landverschlingenden Ackerbau, wie er beispielsweise für Zuckerrüben oder den Zuckerersatzstoff Stevia nötig ist.

Um Naturverträglichkeit geht es auch bei den Stars unter Brains Mikrobensammlung: In einem Kolben voll brauner Brühe fischen Bakterien Gold aus gemahlenem Elektroschrott – ganz ohne giftige Chemikalien, die sonst dafür nötig wären. Die Mikroben reichern das Metall auf ihrer Zellmembran an. Das Besondere daran: Es gelang den Mikroben, sich den Lebensraum Gold zu erschließen – die meisten anderen Bakterien würden in der giftigen Umgebung des Edelmetalls zugrunde gehen. Die Brain-Biologen haben die Mikroorganismen zudem aufgepeppt, damit sie den harten industriellen Ansprüchen genügen. Dazu stehen ihnen grundsätzlich zwei Verfahren zur Verfügung: Sie können das Genom umbauen, also Genschnipsel einbauen oder ausschneiden. Doch viele Verbraucher lehnen Gentechnik ab. Zudem müssen zahlreiche Auflagen erfüllt werden, und die Anforderungen an die Sicherheit sind hoch.

Die Zwingenberger setzten daher auf eine zweite Methode: Sie beschleunigten die natürliche Evolution. Dazu setzt man den Organismus unter Stress, etwa indem man ihn aushungert. Unter diesem Druck kommen Mutationen zum Tragen, die dem Organismus das Überleben sichern. Anschließend fischten sie die brauchbarsten Varianten heraus. Inzwischen sind sie mit ihrem Goldschürfverfahren über das Reagenzglasstadium weit hinaus und demonstrieren es in größerem Maßstab in einem Container. Der Koloss, der bei jedem Durchgang bis zu 150 Kilogramm Mahlgut verarbeiten kann, steht im Hof neben geparkten Autos, kann aber rasch verfrachtet werden, um potenzielle Kunden von dem Verfahren vor Ort zu überzeugen. Der Bedarf ist groß: "Wir überlegen schon, ob wir einen zweiten Container bauen", sagt Eck.

Denn die biologische Goldsuche kommt ohne giftige Chemikalien aus, die in vielen Ländern inzwischen verboten sind. Auch der Blick ins Labor zeigt die rege Nachfrage: Da stapeln sich Plastikbehälter mit Proben aus Müllverbrennungsanlagen, Verwertungsbetrieben und Minen. Dabei geht es nicht nur um Gold: Inzwischen hat Brain auch Organismen im Angebot, die Silber oder seltene Erden isolieren.

Allerdings führt der Weg nicht immer an Gentechnik vorbei. So etwa, als die Brain-Experten nach einer Methode suchten, CO2 in die Wirtschaft zurückzuführen. Entweicht das Gas, heizt das nicht nur das Klima an, sondern es geht mit dem Kohlenstoff auch ein wertvoller Grundstoff verloren. Für das Projekt brauchten die Forscher stammesgeschichtlich sehr alte Mikroorganismen, denn vor dem Aufblühen der grünen Pflanzenwelt enthielt die Erdatmosphäre vor allem Kohlendioxid und Wasserstoff. Sie suchten deshalb unter anderem in Schloten von Braunkohlekraftwerken nach den Urformen des Lebens – und wurden fündig. Dort existierten Mikroorganismen, die allein von Kohlendioxid und Wasserstoff leben. Kohlendioxid dient ihnen als Quelle für Kohlenstoff – den wichtigsten Grundbaustein aller Lebewesen. Wasserstoff liefert die Energie, um den Baustein aus dem CO2 abzuspalten.

Aber die Mikroben sollten noch mehr können: nämlich aus dem Kohlenstoff komplexe Moleküle herstellen, mit denen sich die Chemie schwertut. Das allerdings gelingt selbst den fähigsten Mikroben nicht von allein. "Dazu muss man ganze Genomabschnitte umbauen", sagt Eck. Nach dem Eingriff ins Erbgut sind die kleinen Helfer nun in der Lage, Biokunststoff herzustellen, genauer gesagt deren Vorstufen wie Bernsteinsäure. Eine kleine Pilotanlage, die rund 100 Liter fasst, soll bald bei der Firma Südzucker in Zeitz (Sachsen-Anhalt) entstehen.

Abgase aus einer Bioethanol-Anlage werden durch einen Fermenter mit den Mikroben strömen. Ob das neue Verfahren allerdings wirklich das Klima schützt, entscheidet sich am zusätzlich nötigen Wasserstoff. Er entsteht durch Elektrolyse aus Wasser. Der Strom dafür muss aus Wind oder Sonnenenergie stammen – und nicht aus Kohle. Das treibt die Kosten. Trotzdem soll der Kunststoff letztlich nicht teurer werden als der aus Öl.

Sollte der Firma das gelingen, ist Eck seinem Ziel der langsamen, aber stetigen Wandlung hin zur Kreislaufwirtschaft wieder ein Stück näher gekommen. Er sieht in der industriellen Biotechnologie einen Megatrend. "Sie ermöglicht Produkte, die vor ein paar Jahren noch unvorstellbar schienen", sagt er. Wenn man nicht den Mut und die Geduld verliert.

(bsc)