Bullet-Time: Wie "The Matrix" zu seinem berühmten Effekt kam​

Die Kamera wirbelt durch einen Raum, in dem alle Bewegungen in Zeitlupe ablaufen: Vor 25 Jahren perfektionierte "The Matrix" den "Bullet-Time"-Effekt.​

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Bullet Time Szene aus The Matrix

(Bild: Warner Bros / Village Roadshow Pictures)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Gerald Himmelein
Inhaltsverzeichnis

Zeitlupe hat etwas Hypnotisches: Sie bildet Bewegungen mit einer Genauigkeit ab, die dem bloßen Auge entgeht. Doch lange setzte Technik den Möglichkeiten zur Zeitlupe-Aufnahme enge Grenzen: Eine Geschwindigkeit von 120 fps (frames per second, Bilder pro Sekunde) war das höchste der Gefühle.

1980 kam der britische Künstler Tim Macmillan auf eine neue Idee, um extreme Zeitlupen umzusetzen. Sein Geistesblitz war, nicht mit einer einzigen Kamera zu arbeiten, sondern mit vielen parallelen Auslösern. Hierfür baute er eine ringförmige Konstruktion mit Lochblenden in festen Abständen, die einen im Ring liegenden Filmstreifen belichteten. Jedes Einzelbild des Filmstreifens erfasst denselben Moment aus einem anderen Winkel; bei der Wiedergabe entsteht der Eindruck einer extremen Zeitlupe.

Derweil entstand in Südafrika der Action-Film "Kill and Kill Again" (1981). Dessen "Bullet-Time"-Sequenz arbeitet mit ganz konventionellen Methoden. Der Schurke zieht seine Waffe, drückt ab, es raucht aus der Mündung, eine vermutlich auf einer Glasplatte klebende Plastikkugel schraubt sich durch den Raum, der Held springt der Kugel entgegen, die an seiner Hand abprallt. Die Sequenz beeindruckt trotz oder gerade wegen des primitiven Ansatzes. Wer genau hinsieht, bemerkt Fussel an den Rändern der "Kugel".

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1985 drehte Zbigniew Rybczynski für die deutsche Heavy-Metal-Band Accept ein Musikvideo, bei dem er die Band parallel mit 13 Kameras filmte und das Ergebnis zu wild kreisenden Kamerafahrten zusammenschnitt. Wohlgemerkt: Dazu musste er die Frames aller Kameras nacheinander ausschneiden und mühsam hintereinanderkleben. Das sieht alles andere als ruhig aus, was aber gut zum Song passt.

Mit Gründung der Firma TimeSlice Films entwickelte Tim Macmillan seine Technik kontinuierlich weiter. Varianten der TimeSlice-Technik kamen Anfang der 90er-Jahre in Werbefilmen und Musikvideos zum Einsatz, wobei Regisseur Michel Gondry die kreativsten Ergebnisse lieferte.

1998 kam der Film "Lost in Space" ins Kino. Als darin ein Raumschiff in den Hyperraum springt, bleiben alle Menschen kurz im Raum hängen, während die Kamera weiterkreist. Die auffällige Unschärfe der eingefrorenen Figuren lässt sich womöglich durch Kameras mit geringer Auflösung erklären. Im selben Jahr folgte die Comic-Verfilmung "Blade". Hier setzten die Macher für die "Bullet Time" auf konventionelle Zeitlupe und computer-generierte Kugeln.

Im März 1999 erschien die Computerspiel-Verfilmung "Wing Commander" – nur zwei Wochen vor "The Matrix". Auch hier stoppt die Zeit kurz für einen Hyperraumsprung, umgesetzt von TimeSlice Films. Ursprünglich waren weitere Einstellungen gedreht worden, die aber dem Schnitt zum Opfer fielen.

Dann kam "The Matrix". Erst hatten Effects Supervisor John Gaeta und Kameramann Bill Pope erwogen, konventionelle Zeitlupenkameras an Führungsschienen um die Schauspieler zu ziehen oder per Raketenantrieb durch das Studio zu schießen. Dann beschloss Gaeta, die Ansätze von Macmillan und Gondry zu einer eigenen Technik kombinieren, Arbeitstitel "Flow-mo".

Macmillans Methode hatte den Nachteil, dass bei kompletten Drehungen stets der Filmring sichtbar war (Die dunkle Linie in der Mitte aller TimeSlice-Demos ist die Kamera!). Gondry glättete die Übergänge zwischen den Einzelbildern mit Morphing, erreichte dabei aber nicht die Bewegungsfreiheit der TimeSlice-Technik.

John Gaeta und George Borshukov, beide von Manex Visual Effects, gingen das Problem aus einer neuen Richtung an: per Computer. Im 3D-Programm Softimage3D erzeugten sie zunächst eine Vorschau dessen, was sie erzielen wollten. Dann simulierten sie in der Software, welcher Kameraaufbau zu diesem Ziel führen konnte. Sie gaben das Tempo vor, mit dem die Kamera um die Figuren gleiten sollte und wie schnell oder langsam sich die Figuren dabei bewegen durften.

Daraus bestimmte die Software, in welchen Abständen, Höhen und mit welcher Drehung die Kameras aufgebaut werden sollten. Hierfür wurden über 120 analoge Standbildkameras vom Typ Canon EOS A2 eingesetzt, ergänzt durch Filmkameras am Anfang und Ende des Aufbaus. Lasertechnik half, die Kameras in die richtige Position zu bringen.

Waren die zu filmenden Schauspieler in Position, knipsten die Kameras innerhalb von Sekundenbruchteilen hintereinander je ein Bild – klack, klack, klack. Dann wurde jedes Bild entwickelt, eingescannt, farblich aneinander angeglichen und so positioniert, dass die Übergänge möglichst nah aneinander lagen. Um die Sequenz zu verlängern, wurden per Morphing zusätzliche Zwischenbilder interpoliert. Nebenher hatte die Interpolation den Vorteil, Unterschiede zwischen den Einzelaufnahmen herauszumitteln.

Blieb nur noch das Problem des Hintergrunds. Da die Kameras auch hier einander im Weg standen, wurden alle Flow-mo-Sequenzen vor grünen Flächen (Green-Screens) gedreht, aus denen die Schauspieler später ausgestanzt wurden. Manex-Mitarbeiter schossen an allen Drehorten zahlreiche Referenzbilder: ein Dutzend Aufnahmen aus der benötigten Perspektive sowie weitere Bilder, um die Szene später am Computer rekonstruieren zu können.

Die virtuellen Sets wurden per Photogrammetrie aus den Daten vom Drehort erstellt – heute ein alter Hut, seinerzeit ein revolutionärer Prozess. Als Nächstes wurde der Weg der virtuellen Kamera aus den Daten der "Flow-mo"-Aufnahmen übernommen. Jetzt musste die 3D-Szene nur noch passend ausgeleuchtet, um die freigestellten Aufnahmen der Schauspieler ergänzt und durch computergenerierte Kugeln in die Szene veredelt und gerendert werden – fertig! Allein die Sequenz auf dem Hochhausdach soll 750.000 US-Dollar und ein Jahr harte Arbeit gekostet haben. Heute wären das aufgrund der Inflation 1,87 Millionen Dollar.

Der Effekt aus "The Matrix" beeindruckte das Publikum derart, dass sich "Bullet Time" für ein paar Jahre an allen möglichen und unmöglichen Stellen wiederfand – unter anderem in der Erstverfilmung von "3 Engel für Charlie" (2000). Dafür wurde der von Manex revolutionierte Prozess oft wieder derart vereinfacht, dass das Ergebnis nah an dem war, was 1981 in Südafrika entstanden war.

(dahe)