Corona: Warum uns die Virenvariante "Delta Plus" nicht verwirren sollte

Seite 2: Was ist für die Öffentlichkeit wichtig?

Inhaltsverzeichnis

Es ist dabei erwähnenswert, dass nicht alle Varianten mit neuem WHO-Namen gleich problematisch sind. Wenn die Organisation einer neuen Familie einen griechischen Buchstaben zuteilt, fügt sie auch eine Art Etikett hinzu, das mitteilt, wie besorgt sie über die Variante ist. Die niedrigste Stufe ist eine "interessante" Variante ("Variant of Interest"), das heißt, es lohnt sich, sie im Auge zu behalten. Dann folgen "besorgniserregende" Varianten ("Variants of Concern"), wie etwa Delta, die sich eindeutig zu einer gefährlicheren Variante entwickelt haben. Häufig erhalten interessante Varianten diese Bezeichnung, weil sie eine Mutation mit besorgniserregenden Varianten teilen – sie werden überwacht.

Die US-Seuchenschutzbehörde CDC hat noch eine zusätzliche, schwerwiegendere Kategorie hinzuerfunden, eine "Variante von großer Tragweite" ("Variant of High Consequence"), die bislang noch nie an eine SARS-CoV-2-Familie vergeben wurde. Sie ist für potenzielle künftige Stämme reserviert, die a) bei geimpften Menschen schwere Krankheiten hervorrufen könnten, b) von den üblichen diagnostischen Tests nicht entdeckt werden könnten oder c) womöglich gegen vorhandene COVID-19-Behandlungsansätze resistent sind.

Die beiden Pango-Stämme, die bislang am häufigsten in den Medien als "Delta Plus" bezeichnet wurden, sind AY.1 und AY.2. Sie weisen beide eine Mutation auf, die bereits bei einer anderen besorgniserregenden Variante, genannt Beta, beobachtet wurde, die zuerst in Südafrika auftrat. In den Monaten seit dem Auftauchen von AY.1 und AY.2 gab es jedoch keine Anzeichen dafür, dass sie sich in ihrem Verhalten von ihrer Elternvariante unterscheiden. "Wir identifizieren Mutationen, von denen wir glauben, dass sie von Bedeutung sind – und es gibt einige Beweise dafür, dass das hier so ist", sagt MacCannell. "Manchmal erweisen sich diese als richtig, manchmal aber auch nicht."

Wenn sie sich also nicht anders verhalten, warum teilen viele Gesundheitsbehörden – einschließlich der US-Seuchenschutzbehörde CDC – Fälle in Unterlinien von Delta auf, wenn sie ihre Zahlen melden? "Vieles davon ist der Versuch, Fragen abzuwehren. Wenn wir einfach ein Sequenzierungs-Dashboard einrichten, in dem steht, wir hätten so und so viel Delta-Fälle, kommen gleich Fragen wie: 'Gibt es auch AY.3? Ich Habe gehört, dass AY.3 besorgniserregend ist.' Das sind nicht nur Medien, das sind auch Forschungseinrichtungen, Kliniken – alles Kunden, die wir als staatliches Labor für öffentliche Gesundheit bedienen", sagt Florek vom Gesundheitslabor von Wisconsin. "Was der beste Ansatz ist? Ich bin mir wirklich nicht sicher. Ich denke, wir alle lernen gerade, wie wir die notwendigen Informationen am besten vermitteln können, und zwar so, dass sie für ein möglichst großes Publikum verwertbar und interpretierbar sind."

Tatsache ist: Wissenschaftler werden immer Vermutungen darüber anstellen, welche Gene mit Verhaltensänderungen des Virus verbunden sind. Diese Spekulationen beruhen jedoch häufig auf Laborexperimenten, bei denen die Auswirkungen einzelner genetischer Veränderungen untersucht werden. In Wirklichkeit finden Mutationen zufällig im Virengenom bei Millionen von Menschen statt, die infiziert sind. Einige dieser Mutationen sterben direkt aus – und einige wenige verbreiten sich auf andere Menschen. Während sich die Veränderungen anhäufen, interagieren sie miteinander – und mit menschlichen Verhalten. Das ist extrem komplex.

Und es dauert lange, bis Wissenschaftler wirklich verstehen, was vor sich geht – viel länger, als es dauert, eine Zeitungsmeldung zu schreiben oder einen wissenschaftlichen Artikel ohne Peer Review online zu stellen. "Die Genomik ist nicht alles – sie ist der Anfang der Geschichte. Sie sagt uns, dass es diese Variante gibt", sagt Pango-Mitarbeiter Brito. "Wir können besorgt sein über sie, wenn es einen Grund dafür gibt, aber nicht bei geringfügigen Veränderungen." Klar ist: Die Datenmengen sind schon jetzt gigantisch. Nie war ein Virus derart unter Beobachtung wie SARS-CoV-2.

Die Originalversion dieses Artikels ist Teil des Pandemic Technology Project, das von der Rockefeller Foundation unterstützt wird.

(bsc)