"Geschworene" können in China per App über Essenslieferungen urteilen

Um Streits zwischen Käufern und Verkäufern zu schlichten, testen chinesische Apps eine Jury-Funktion. Das hat Potenzial, aber auch ein entscheidendes Problem.

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Frau mit Smartphone in China

(Bild: Shutterstock / Krakenimages.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Zeyi Yang

Bestellen Sie öfter Essen? Wenn ja, kennen Sie wahrscheinlich die Situation, dass Sie mit hungrigem Magen zu lange auf Ihre Bestellung warten müssen oder das Essen kalt ankommt oder nicht Ihren Wünschen entspricht. Um sich zu beschweren, bleibt meist nur eine negative Bewertung in der App, die von dem Restaurant vielleicht gelesen wird, vielleicht aber auch nicht.

Weil das für Kundinnen und Kunden frustrierend sein kann, hat man sich in China andere Lösungen überlegt. Meituan, die in China beliebteste App für Essenslieferungen, lädt normale Nutzerinnen und Nutzer ein, als "Geschworene" zu fungieren, die über Streitigkeiten zwischen anderen Kunden und Restaurants entscheiden. Dabei kann es sich um alles Mögliche handeln, vom fehlenden Reis über nicht ausreichend gewürzte Nudeln bis hin zu völlig kalten Speisen.

2020 hat Meituan die Jury-Funktion eingeführt. Seitdem wurde sie zwar ein wenig weiterentwickelt, aber ihr Kern bleibt derselbe: Sie ermöglicht Händlern und Gastronomen, gegen schlechte Bewertungen von Kunden vorzugehen, die sie für betrügerisch oder böswillig halten. Wenn sich ein Restaurant entscheidet, einen Fall zu eröffnen, können die Juroren die Bewertung des Kunden lesen, die ursprüngliche Bestellung und die Lieferunterlagen auswerten und zusätzliche vom Restaurant bereitgestellte Informationen berücksichtigen, bevor sie ihr Urteil fällen. Wenn sie zugunsten des Restaurants entscheiden, wird die Bewertung entfernt.

Einige der Juroren nehmen die Sache sehr ernst; sie sehen sich die Bestellscheine genau an, zoomen die von den Kunden hochgeladenen Fotos der Speisen heran, nehmen die Zeitstempel der Lieferungen unter die Lupe und haben sichtlich Spaß an ihrer Rolle als "Cyber-Richter", wie sie sich selbst nennen. Andere sind eher daran interessiert, sich über die Beschwerden lustig zu machen. In chinesischen sozialen Netzwerken kursieren immer wieder Berichte über besonders lächerliche Streitigkeiten.

Meituan ist nicht die einzige beliebte chinesische App, die das Plattformmanagement zu Teilen per Crowdjudging betreibt. Auch Alibaba, Tencent, Baidu, Douyin, Zhihu hatten in der Vergangenheit ähnliche Ansätze ausprobiert. Und obwohl viele Experimente inzwischen wieder eingestellt wurden, bieten sie interessante Einblicke in das grundlegende menschliche Verhalten im Internet.

Eines der ältesten Experimente stammt von Alibaba, dem chinesischen E-Commerce-Riesen. Zwischen 2012 und 2018 erlaubte Alibaba jedem Nutzer und jeder Nutzerin, ob Verkäufer oder Käufer, über unangemessenes Verhalten auf der Plattform oder bei Zahlungsstreitigkeiten mit unzufriedenen Kunden abzustimmen. Bis zum Ende des Programms hatte dieses Jury-System mehr als 16 Millionen Fälle bearbeitet, wobei 1,7 Millionen Nutzer über 100 Millionen Stimmen abgaben.

Um Missbrauch und Interessenskonflikte zu verhindern, verfügte das System über eingebaute Sicherheitsmechanismen. Es gab ein mehrstufiges zufälliges Verteilungssystem, das es unmöglich machte, vorherzusagen, welchen Fall man zugewiesen bekommen würde. Die App sperrte außerdem proaktiv Nutzer, die ständig Fälle übersprangen. Und es gab ein spielerisches Design, bei dem die Geschworenen Erfahrungspunkte erhalten und aufsteigen konnten, wenn sie mehr Fälle beurteilten. Somit konnte man damit prahlen, dass man zu den "100 besten Geschworenen der Welt" gehörte.

Auch wenn es die Funktion heute nicht mehr gibt, können wir aus den Daten, die es generiert hat, mehr darüber lernen, wie diese Crowd-Voting-Systeme wirklich funktionieren.
Angela Zhang, Juraprofessorin an der Universität Hongkong, verfasste 2021 zusammen mit zwei weiteren Wissenschaftlern eine Studie, in der sie 630.000 Geschworenenfälle auf Alibaba in einem Zeitraum von 20 Monaten untersuchten. Mehr als 150.000 Geschworene waren an diesen Fällen beteiligt; mehr als 80 Prozent von ihnen waren Käufer auf der Plattform.

Zhangs Analyse ergab, dass die Streitbeilegung per Crowdsourcing deutlich effizienter war als die bisherige Alternative. Während die Bearbeitung einer normalen Beschwerde auf der Plattform drei bis vier Werktage in Anspruch nehmen würde, benötigte die Online-Jury in der Regel nur etwa 73 Minuten, um eine Entscheidung zu treffen. Allerdings konnte es einige Zeit dauern, bis ein Geschworenenprozess zustande kam; auch bei Meituan vergehen heute häufig einige Tage, bis ein "Verfahren" eröffnet wird.

Das Team fand aber auch ein großes Problem: Voreingenommenheit. In einer Käufer-Verkäufer-Dichotomie stimmen die Menschen eher für die Gruppe, der sie angehören. Im Durchschnitt stimmte ein Geschworener, der auf der Alibaba-Plattform selbst Waren anbot, mit 10 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit für die Verkäuferseite als ein Geschworener, der Käufer war. Diese Voreingenommenheit verstärkte sich, wenn die Geschworenen einen zweideutigen Fall sahen oder nachdem sie einige Fälle erlebt hatten, in denen ihre eigene "Seite" verloren hatte.

Die Teilnehmer des Programms mussten kein intensives Jury-Training absolvieren, und es gab auch keine wirklichen Kontrollmechanismen, um ihre Entscheidungen zu überprüfen. Zhang fand heraus, dass sich die Voreingenommenheit dadurch verringern ließe, indem die Geschworenen mehr Zeit mit der Abstimmung über diese Streitfälle verbringen. Die Voreingenommenheit könne ebenfalls sinken, wenn die Plattform ein ausgeklügeltes Verteilungssystem einrichtet, das die Geschworenen für einen Fall möglichst diversifiziert.

Angela Zhang, deren Buch über die Regulierung chinesischer Online-Plattformen im nächsten Jahr erscheinen wird, ist zuversichtlich, dass die Funktion eine Möglichkeit ist, Internetplattformen für Verbraucher zu verbessern: "Ich betrachte diese Crowdjudging-Systeme als eine Form der Dezentralisierung von Plattformen. Im Wesentlichen geben die Plattformen einen Teil ihrer Befugnisse an ihre Nutzer ab und schaffen so eine kollaborative und demokratischere Governance-Struktur", sagt sie: "Die Geschworenen-Funktion von Meituan verbessert nicht nur die Streitbeilegung, sondern stärkte auch die Legitimität der Entscheidungen der Plattform."

Allerdings ist das System von Meituan erst drei Jahre alt und damit nur halb so alt wie das Jury-System von Alibaba, als es eingestellt wurde. Es gibt noch keine vergleichbare Studie zu den Daten von Meituan – und entsprechend keine Gewissheit, ob die App nicht doch einige der gleichen Probleme mit Voreingenommenheit und Missbrauch hat wie Alibaba.

(jle)