Das Netz erfindet sich neu

In vielen Ecken des Web entstehen Angebote, die eine flüssige und bequeme Bedienung zulassen, wie man sie Web-Diensten nie zugetraut hätte. Web 2.0 bringt aber mehr als nur schicke Oberflächen. In neuartigen Anwendungen ist der Benutzer Konsument und Informationslieferant zugleich und findet im Gegenzug besser auf ihn abgestimmte Inhalte vor.

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Von
  • Mario Sixtus
Inhaltsverzeichnis

Schon vor Jahren prophezeiten Start-ups und gestandene Unternehmen unisono, dass alltägliche Softwareanwendungen ins Web wandern. Die einzige Client-Applikation, die ein Computernutzer dann noch benötigt, wäre ein Webbrowser. Jetzt wird die Idee allmählich Wirklichkeit. Web-Services, die unter der Web-2.0-Fahne segeln, leisten bereits heute Erstaunliches und dank Breitband-Boom und günstigen Flatrates ist die Vision des „Webtops“ - des überall per Browser verfügbaren Arbeitsplatzes - ein gutes Stück weiter in Richtung Realität gerückt [1]. Dieser Artikel stellt eine Auswahl innovativer Dienste aller Art vor, die die Bandbreite dessen repräsentieren, wofür das Buzzword Web 2.0 steht.

Mit Gmail hat Google bewiesen, dass in dem Konzept webbasierender E-Mail - eigentlich einem alten Hut - noch ein gehöriges Potenzial steckt und dass es sich lohnt, neue Wege auszuprobieren. Selbst gestandene Netzbewohner gerieten ins Schwärmen und verbannten E-Mail-Clients von ihren Rechnern.

Das Neue an Gmail: Der Dienst macht intensiven Gebrauch von der Ajax-Technik (Asynchronous JavaScript and XML), die einen fließenden Datenaustausch zwischen Client und Server erlaubt, ohne dass Webseiten zwischendurch komplett neu geladen werden müssen. Ajax-Applikationen lassen sich fast ohne die webüblichen Verzögerungszeiten bedienen und vermitteln dadurch beinahe schon das Gefühl, mit einer lokal laufenden Anwendung zu arbeiten (siehe S. 152, c't 5/06).

In einem anderen Bereich bricht Google noch deutlicher mit dem Konzept gängiger E-Mail-Dienste: Gmail sortiert ein- und ausgehende E-Mails nicht chronologisch in unterschiedlichen Ordnern ein, sondern bündelt sie zu so genannten Conversations. Ähnlich der Thread-Ansicht bei Web-Foren gesellt Gmail Nachrichten, die sich aufeinander beziehen, zueinander, selbst wenn die Versandzeitpunkte der einzelnen Mails weit auseinander liegen.

Auch das Unternehmen Zimbra möchte E-Mail neu erfinden. Seine Lösung besteht aus einem Server, der als Open Source (Mozilla Public Licence) und als kommerzielle Version verfügbar ist. Beim Navigieren durch die ajaxifizierte Oberfläche, die außer einem E-Mail-Client einen Terminkalender abbildet, vergisst der Benutzer schnell, dass er es mit einer Web-Anwendung zu tun hat: Kontextsensitive Menüs öffnen sich auf Rechtsklick mit der Maus, Info-Blasen erscheinen beim Herüberfahren mit dem Cursor und Termine lassen sich per Drag & Drop verschieben.

Der Clou aber sind die so genannten Zimlets. Mit ihnen kann Zimbra Verknüpfungen mit anderen Applikationen herstellen, die Web-Services anbieten. Wie Zimlets funktionieren, veranschaulicht die Demoinstallation auf dem Zimbra-Server, die eine Hand voll Zimlets enthält. Sie manifestieren sich als Icons am linken Fensterrand. Zieht man einen Adressbucheintrag auf das Yahoo-Maps-Zimlet, so öffnet sich ein kleines Fenster mit der Karte der zugehörigen Adresse.

Laut Zimbra lassen sich Verknüpfungen aber auch direkt in E-Mails integrieren, etwa für die Anbindung an eine Lagerverwaltungssoftware. Ein Rechtsklick auf eine Artikelnummer verrät dann beispielsweise den aktuellen Bestand. Die Zimbra-Terminverwaltung setzt ganz auf Kollaboration. Nutzer können beliebig viele, separate Kalender anlegen und diese für Kollegen oder Freunde abgestuft freigeben.

Etwas fantasievoller geht Backpack das Thema Arbeitsplanung an. Zunächst bietet der Dienst die Möglichkeit, auf simple Weise Aufgabenlisten anzulegen. Der Benutzer versieht diese dann nach Belieben mit Notizen, Bildern und Dateien und gibt sie für andere Nutzer frei. Listen lassen sich auch als XML-Datei exportieren. Außerdem erinnert Backpack per E-Mail an Termine.

Das Geschäftsmodell von Backpack ist beispielhaft für viele Web-2.0-Dienste. In der Basisversion ist er gratis, wer mehr als fünf Listen und zehn Erinnerungsmails pro Monat benötigt, muss allerdings zu einem kostenpflichtigen Account wechseln.

Gängige Office-Programme haben ihre Wurzeln in einer Zeit, als PCs noch isolierte Systeme waren und Daten höchstens auf Disketten auf Reisen gingen. Funktionen für die Teamarbeit folgten nur zögerlich, und selbst in aktueller Software verstecken sich diese meist schamhaft im dritten Untermenü.

Arbeit an gemeinsam erstellten Dokumenten bedeutet daher in vielen Unternehmen immer noch, dass Teammitglieder verschiedene Fassungen per E-Mail hin- und herschicken. So ist das Versionschaos vorprogrammiert. Entwickler, die Anwendungen für eine kommunikative Umgebung wie das Internet erstellen, ergreifen nun die Chance, historisch bedingte konzeptionelle Fehlentwicklungen zu korrigieren.

Die Macher von Writely setzen bei ihrer webgestützten Textverarbeitung vom Start an auf Gruppenfunktionen. Jedem Dokument kann der Benutzer eine Liste von Mitarbeitern zuordnen; neue Teammitglieder lädt er per E-Mail ein. Ebenso leicht kann er ihnen die Editierberechtigung wieder entziehen. Alle Benutzer können ein für sie freigegebenes Dokument bearbeiten, sogar gleichzeitig. Änderungen anderer Benutzer sieht man mit wenigen Sekunden Versatz. Kommt es zu einem Konflikt, weil zwei Benutzer sich widersprechende Änderungen vornehmen, löscht Writely eine der Änderungen und weist den Benutzer darauf hin. Über eine Versionsverwaltung zeigt Writely die Unterschiede zwischen zwei beliebigen Versionen an.

Writely im- und exportiert DOC-, RTF- und ODT-Dateien. Zahlende Nutzer sollen später auch PDFs ausgeben können. Zur Bearbeitung wandelt das System ein Dokument intern ins HTML-Format. Wer direkt im Web publizieren will, tut dies auf der Writely-Plattform oder überträgt den formatierten Text an ein Blog, sofern dieses die Schnittstelle metaWeblog oder MovableType unterstützt.

Die Formatierungsmöglichkeiten reichen zwar noch lange nicht an die eines Word oder OpenOffice heran. So hat der Anwender keine exakte Kontrolle des Layouts wie bei Word. Der Benutzer kann einzelne Textstellen suchen und ersetzen sowie Grafiken bis zu einer Größe von zwei MByte einbinden. Mit einer rudimentären Drag&Drop-Funktion kann er Textblöcke im Dokument verschieben.

Je mehr JavaScript eine Anwendung enthält, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie auf allen Browsern läuft. Writely setzt FireFox ab Version 1.0.5, Internet Explorer 6.0 oder Mozilla 1.5 oder neuer voraus.

Was Writely für Textdokumente ist, ist Numsum für Tabellen - allerdings in noch elementarerer Form. So unterstützt die Tabellenkalkulation zwar absolute Feldbezüge; relative Verknüpfungen beherrscht sie aber nicht. Der Benutzer kann Texte formatieren sowie Bilder und Hyperlinks einbinden. Tabellenblätter lassen sich alleine nutzen, für das Team oder für die Allgemeinheit freigeben. Auf eine Import- oder Exportfunktion für Office-Dokumente muss der Nutzer aber verzichten.

[1] Michael Kunze, Verflochtenes Leben, Web 2.0 - der nächste Schritt, c't 1/06, S. 175

[2] Jo Bager, Showmaster, S5 statt PowerPoint: Präsentationen in HTML, c't 22/05, S. 218

[3] Dion Hinchcliffe, More Great Web 2.0 Software

[4] Mario Sixtus, Massenmedium, Blogosphäre: Kommunikationsgeflecht und Marketingfaktor

"Das Netz erfindet sich neu"
Weitere Artikel zum Thema "Das Netz erfindet sich neu" finden Sie in der c't 5/2006:
Ein Streifzug durch das Web 2.0 S. 144
Programmieren mit Ajax S. 152
Bibliotheken und Frameworks für Ajax S. 160

(jo)