Massenmedium
Ein einzelnes Weblog ist so aufregend oder langweilig wie die Person, die es schreibt. In ihrer Gesamtheit entfaltet die Blog-Welt aber eine explosive Publikationsmacht. Unternehmen, Politiker und Journalisten haben diese bereits zu spĂĽren bekommen.
- Mario Sixtus
Als am Morgen des 7. Juli 2005 die ersten Meldungen über einen „größeren Zwischenfall“ in der Londoner U-Bahn aus den Agenturtickern tröpfelten, waren einmal mehr persönliche Web-Journale die beste Quelle für aktuelle Informationen. Während Reporter sich an den abgesperrten U-Bahnhöfen in Ermangelung anderer Gesprächspartner gegenseitig interviewten, saßen viele Augenzeugen bereits an der Tastatur und tippten ihre Blogs voll.
Jo Herbert beispielsweise steckte nach einer der Explosionen 30 Minuten in einer rauchgefüllten U-Bahn fest. Er notiert: „Ich dachte wirklich, dass ich sterben muss und hoffte nur, dass es der Rauch und nicht das Feuer sein würde.“ Auf Moblog.co.uk, einem Kollektiv-Blog für Handy-Fotografie, finden sich schnell Schnappschüsse aus dem Londoner Untergrund. Unscharf und verrauscht - aber vielleicht gerade deshalb so beklemmend authentisch.
Nicht zum ersten Mal war es eine Katastrophe, die die persönlichen Online-Journale in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit rückte. So geschah es bereits nach dem Tsunami in Südostasien, dem Irak-Krieg und dem 11. September. Wo Menschen sind, sind auch Blogger: Jeder PC mit Internet-Zugang irgendwo auf der Welt wird plötzlich zum Publikationswerkzeug.
„Die Presse ist immer nur so frei wie ihr Kontostand“, sagt Doc Searls, Redakteur des Linux Journal, Buchautor und Übervater der Szene. Mit dem Internet und den nötigen Blog-Tools kann nun aber auf einmal jeder publizistisch tätig werden. „Pixel kosten nichts“, sagt Searls. Obendrein benötigt man dafür kein spezielles Technik-Know-how. Vielleicht entzieht sich gerade deshalb IT-affinen Zeitgenossen manchmal die Faszination der Blog-Welt.
Medienrevolution im Geheimen?
Es ist schwierig, Außenstehende für Blogs zu begeistern. Da fallen Vergleiche wie „Homepage“, „Forum“ und „Gästebuch“ und schon nähert sich die Aufmerksamkeitskurve der Nulllinie. Davon ungerührt schwärmt die Gegenbewegung mit leuchtenden Augen von einer „Demokratisierung der Medien“. Das Wirtschaftsmagazin „Business Week“ hob die kleinen Journale kürzlich auf seine Titelseite und mahnte, fast ein wenig drohend: „Niemand kommt an Blogs vorbei!“
Schlagworte wie „Revolution der Medienwelt“ und „P2P-Journalismus“ werden geprägt. Die Redaktion des angesehenen Wörterbuchs „Merriam Webster“ kürte den Begriff „Blog“ gar zum Wort des Jahres 2004. Doch laut einer aktuellen Umfrage weiß nur knapp ein Viertel der deutschen Internet-Nutzer, was sich hinter diesem Terminus verbirgt.
Die denkbar knappste Definition für „Weblog“ stammt von Rebecca Blood und lautet: „Eine Website, die regelmäßig aktualisiert wird und auf der neues Material am Beginn einer Seite veröffentlicht wird.“ Ausgedacht hat sich das Kunstwort aus „Web“ und „Log(buch)“ der US-amerikanische Programmierer und Philosoph Jorn Barger, der seit Dezember 1997 die Website „Robot Wisdom“ betreibt, um dort seine Touren durch das Web zu „loggen“. Später alberte der Web-Designer Peter Merholz ein wenig mit der Vokabel herum und schrieb: „Ich habe beschlossen, das Wort ‚Weblog’ wee-blog auszusprechen. Oder kurz: ‚Blog’“.
Google auf Speed
Es ist die Summe technischer Kleinigkeiten, die die Welt der Blogs so dynamisch macht und sie von den Regionen der statischen Homepages abgrenzt. Da wäre zunächst das Backend: Meist serverseitig, in seltenen Fällen auch mittels Client-Software, kümmert sich ein Mini-Content-Management-System (CMS) um die Technik des Web-Publizierens. Wer unfallfrei eine E-Mail verfassen kann, kommt in der Regel auch mit diesen Bonsai-CMS klar (siehe Seite 158 in c't 19/05).
Weit wichtiger als die einfache Bedienbarkeit: Die Blog-Tools kommunizieren hinter den Kulissen untereinander und mit zentralen Diensten. Jede gängige Blog-Software füttert die Verzeichnisse von Weblogs.com oder Blo.gs, die somit stets über Listen frisch aktualisierter Weblogs verfügen. Diese Aufstellungen dienen wiederum Blog-Suchmaschinen wie Technorati oder Feedster als Trigger für eine inhaltliche Indizierung.
Anders als bei herkömmlichen Web-Suchdiensten wie Google oder Yahoo dauert es somit nur noch Augenblicke, bis ein neuer Text erfasst ist und nicht Tage oder gar Wochen. Die BBC zählte via Technorati bereits zwei Stunden nach der Explosion der Londoner Bomben 1300 Postings zu diesem Thema. „Google auf Speed“ wird Technorati ob dieser Echtzeitfähigkeit gerne genannt.
Ob ein politischer Kommentar, ein Filmtrailer, ein wissenschaftlicher Artikel oder schlicht der neueste Klatsch: Worüber Blogger reden, das verlinken sie auch. Und diese Links lassen sich natürlich zählen und in Hitparaden anordnen. Neben Technorati liefern Popdex, Daypop, Blogpulse und etliche andere Services solche Hyperlink-Charts. Hierzulande bietet Blogstats.de einen ähnlichen Dienst.
Ein wichtiger Faktor ist die Verlinkung der Blogs untereinander: Trackbacks sind Rücklinks auf andere Blogs, die sich thematisch auf den aktuellen Eintrag beziehen. Je nach System muss man eine Trackback-URL manuell eingeben, neuere Tools finden diese dank Trackback-Auto-Discovery bereits automatisch. Trackbacks erlauben es somit einem Blog-Autor zu sagen: „Hey, zu diesem Thema habe ich auch etwas geschrieben. Schau dir das mal an.“
Wem das zu kompliziert ist, der nutzt einfach die Kommentarfunktion eines Blogs. Abgerundet wird der Funktionsumfang durch RSS (Rich Site Summary oder auch Really Simple Syndication) [#literatur [2]]. In diese XML-Sprache eingebettet, lassen sich Inhalte von Blogs und News-Portalen komfortabel in einem Reader-Programm lesen. Auch Microsoft hat den Nutzen von RSS erkannt und will Longhorn und Internet Explorer 7 mit RSS-UnterstĂĽtzung ausstatten.
In der Summe entsteht aus diesen Zutaten ein einzigartiges dynamisches Informationsgeflecht, ein pulsierendes Netz im Netz, welches das einstige Niemandsland zwischen Kommunikation und Publikation urbar macht.
Dynamisches Informationsgeflecht
Die Größe der Blogosphäre, wie man dieses Gespinst gerne nennt, ist beachtlich: Duncan Riley vom „Blog Herald“ schätzt die Zahl der Weblogs weltweit auf 60 Millionen. Technoratis Datenbank enthält derzeit immerhin 16 Millionen Blogs - und 1,4 Milliarden Links. Ein Ende des Booms ist nicht in Sicht, im Gegenteil: Alle fünf Monate verdoppeln sich diese Zahlen. Allein die schiere Größe der Blog-Welt macht klar: Blogger sind keine kauzige Randgruppe, vielmehr gehören Vertreter aus nahezu allen Alters- und Berufsgruppen zu den Journalautoren.
Blogger schreiben über Nanotechnologie oder ihren letzten Zahnarztbesuch, sie kritisieren Kinofilme, schimpfen über das Fernsehprogramm oder über Frauenpolitik, sondern Banales und Hochgeistiges ab. Das Etikett „Internet-Tagebücher“ hat die hiesige Presse den Blogs aufgeklebt, in Ermangelung einer griffigeren Metapher. Und tatsächlich gibt es sie auch, die Diaristen, die emsig jedes Detail ihres Tagesablaufs protokollieren. Der Artikel ab Seite 154 in c't 19/05 präsentiert die gesamte Bandbreite der deutschen und internationalen Blogosphäre.
Aus einzelnen Weblogs jedoch einen Rückschluss auf die Inhalte „der Blogs“ zu ziehen, ist ebenso zulässig, wie über das Medium Papier ein Urteil zu fällen, nachdem man einen Groschenroman und ein Telefonbuch durchgeblättert hat. In seinem Blog „Notizen aus der Provinz“ stellt Markus Breuer klar: „Eine der ganz wenigen Aussagen, die mit ‚Die Blogger’ beginnt und uneingeschränkt stimmt, geht mit ‚betreiben ein Weblog’ weiter. Alles andere ist meist Bullshit.“
Auch von einer Blogosphäre zu sprechen, ist genau genommen illegitim, vielmehr existieren abertausende Communities, die locker untereinander vernetzt sind und deren Grenzen sich überlagern. Gerade diese Heterogenität ist der Grund dafür, dass sich Informationen bisweilen in Flächenbrandgeschwindigkeit verbreiten. Web-Foren sind dagegen meist in sich geschlossene Systeme mit eng abgezirkelten, thematischen Grenzen. Ebenso gleichen Mailing-Listen und Usenet-Gruppen quasi-geschlossenen Veranstaltungen. Die offenen, informellen Kreise der Blogger sind jedoch anfällig für Informationen und Neuigkeiten aus allen Richtungen - und sie plappern diese gerne weiter.
Literatur
[1] Mario Sixtus, „Wie einen Schneeball rollen“, Die Vordenker der internationalen Weblog-Community trafen sich zum Gedankenaustausch, c't 11/05, S. 58
[2] Moritz Sauer, Richtig Schnelle Schlagzeilen, RSS: Nachrichten-Appetizer fĂĽr jedermann, c't 12/03, S. 188
"Die Magie der Blogs" | |
Weitere Artikel zum Thema Blog finden Sie in der c't 19/2005: | |
Die Medienmacht der Blogs | S. 148 |
Rundgang durch die Blogosphäre | S. 154 |
Kostenlose Web-Dienste fĂĽr Blogger | S. 158 |
Ein eigenes Weblog einrichten mit Movable Type | S. 166 |
Blogs - Beispiele | ||
Name | URL | Beschreibung |
moblog uk | http://moblog.co.uk | Foto-Blog, in dem schnell ĂĽber die Attentate in London berichtet wurde |
Notizen aus der Provinz | http://notizen.typepad.com | Blog u. a. zur Blogosphäre |
AppleInsider | http://www.appleinsider.com | Neuigkeiten und GerĂĽchte ĂĽber Apple |
PowerPage | http://www.powerpage.org | News zu Apple und Gadgets |
Spreeblick | http://www.spreeblick.de | |
Die Zeit - Blogs | http://www.zeit.de/blogs | Blogs der Wochenzeitung „Die Zeit“ |
Handelsblatt global reporting | http://services.handelsblatt.de/global-reporting/ | Gemeinschftsblog der Handelsblatt-Korrespondenten |
Wirtschaftswoche - Weblogs | http://blog.wiwo.de | zwei Blogs von Wirtschaftswoche-Mitarbeitern |
Tagesspiegel Online - Weblogs | http://www.tagesspiegel.de/weblogs/ | Blogs von fĂĽnf Tagesspiegel-Autoren |
Robot Wisdom | http://www.robotwisdom.com | Blog des „Blog“-Erfinders Jorn Barger |
(jo)