Das Web sind wir

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MASSENVERANSTALTUNG WEB

"Noch vor wenigen Jahren waren die Online- und die Offline- Welt nahezu komplett voneinander getrennt", sagt Ito: "Was wir im Netz trieben, verstanden die Bewohner des ,Meatspace‘ sowieso nicht. Es gab also keine Notwendigkeit, diese beiden Identitäten miteinander zu synchronisieren." Das aber ändert sich gerade, glaubt Ito.

Mit der zunehmenden Verbreitung von Internet-Zugängen hat sich das Web zur Massenveranstaltung gewandelt. Das neue Publikum brachte neue Bedürfnisse mit: Plötzlich stellten auch Kanarienzüchter ihre persönliche Seite ins Netz. Literaturfreunde und Ökologieinteressierte suchten im Web nach Gleichgesinnten, und seit Ebay ist der Internet-Handel zu einer Art Breitensport geworden. "Zu den Heavy-Usern des Netzes gehören immer mehr ,normale Menschen‘, der Anteil der Computerfreaks wird permanent kleiner", sagt Ito. Das Resultat dieser Entwicklung: "Es macht keinen Sinn mehr, zwischen Online- und Offline-Welt zu unterscheiden."

Es ist eine erstaunliche Volksbewegung, die sich derzeit formiert. Computer-Freaks und Netzrebellen sehen anders aus. Die neuen Web-Bewohner kommen als Siedler, nicht als Revolutionäre. Sie machen es sich gemütlich und bringen die Sitten aus der realen Welt mit. Das Netz bekommt ein Gesicht. Viele Gesichter. Wir sind das Web.

DIE BLOGOSPHÄRE

Weblogs bilden den ersten großen Siedler-Treck in die neue Netzwelt. Die kleinen Online-Journale werden mal als Tagebücher belächelt, zur Therapieform einsamer Seelenexhibitionisten oder zur publizistischen Revolution erklärt. All das ist richtig oder kann es zumindest sein - doch darauf kommt es nicht in erster Linie an.

Primär sind Weblogs (kürzer: Blogs) eine Technologie. Im Kern handelt es sich um simplifizierte Varianten großer Web- Content-Management-Systeme. Mit Blog-Software ein Journal im Web zu führen ist in etwa so einfach, wie eine E-Mail zu verschicken. Ein Blog kann ein Tagebuch sein, eine wissenschaftliche Publikation oder eine Sammlung öffentlicher Notizzettel -- mal dies, mal das. Darauf kommt es an.

Rund elf Millionen Weblogs erfasst der Weblog-Suchdienst Technorati zurzeit. Die Schätzungen über die Zahl der weltweit existierenden Blogs schwanken zwischen 15 und mehr als 60 Millionen. Deutschland ist Nachzügler: Der Dienst Blogstats. de zählt etwa 60 000 deutschsprachige Blogs. Sowohl Technorati als auch Blogstats beobachten das gleiche Phänomen: Etwa alle fünf Monate verdoppeln sich die Zahlen. Und wer meint, dass er was zu sagen hat, kann mit "Podcasting" auf Basis von Blog-Technologie mittlerweile sogar Radio machen. Einige Weblogs sind in den USA bereits populärer als manche Tageszeitung und setzen beachtliche Summen durch Bannerwerbung um.

Die wahre Seele der Blogwelt entdeckt man jedoch erst, wenn man sich die kleinen persönlichen Journale anschaut, die täglich vielleicht eine Hand voll Leser haben. Und hier begegnen wir nun endlich echten Menschen. Zwar gibt es natürlich auch etliche anonyme Blogger -- wer jedoch ernst genommen werden will, schreibt unter seinem realen Namen. Viele veröffentlichen sogar Porträtfotos und persönliche Angaben auf einer "About"-Seite.

Joi Ito findet diese Abkehr von der Anonymität nur logisch: "Wer sich online eine Reputation erarbeitet, indem er beispielsweise über ein Fachgebiet schreibt, der will dieses Ansehen auch im richtigen Leben nutzen. Das geht nur, wenn man ihn dort wiedererkennen kann."

Für Thomas Burg, Leiter des Zentrums für Neue Medien an der Donau-Universität Krems, sind Weblogs eine Antwort auf die Frage der "persönlichen Präsenz" im Web: "Früher waren die Menschen verstreut in irgendwelchen Message-Boards, das waren gemietete Räume, dort konnte man keine Beständigkeit als Person aufbauen." Kontinuität könne man nur durch Persönlichkeit, durch Individualität und durch eine gewisse Offenheit erzeugen. "Es ist etwas vollkommen anderes, als in einem Forum zu schreiben", meint der Münchener PR-Experte Klaus Eck, "dort geht man als Person unter, es sind einfach zu viele Menschen da." Eck glaubt, dass der persönliche Stil eines Bloggers bis zu einem gewissen Grad sogar dessen "Mimik und Gestik ersetzen" kann.

Der Unterschied zwischen Blogs und den Ich-und-mein- Hund-Homepages der 90er Jahre besteht zunächst in einer Summe von Techniken, die Kommunikation und Vernetzung unterstützen. Jede Weblog-Software meldet einen neuen Eintrag an einen oder mehrere Server, deren Update-Listen dann wiederum von weiteren Diensten konsultiert werden, beispielsweise von speziellen Blog-Suchmaschinen. Diese Mel- dung, der so genannte "Ping", sei der "Herzschlag des Blogtums", sagt der Wiesbadener Web-Entwickler Ralf Graf.

Doc Searls, Buchautor und Redakteur des Linux-Journals, erklärt die Effizienz der Technik anhand von Damenunterwäsche. Als der Wäschehersteller Victoria's Secret vor einiger Zeit einen neuen BH auf den Markt brachte, fand der Blog-Suchdienst Technorati kurze Zeit nach dem Produktlaunch gleich hunderte von Erwähnungen in Weblogs: "Ganz normale Frauen hatten ihre ersten Erfahrungen mit dem neuen Ding geschildert", erzählt Searls. Dienste wie Popdex, Daypop oder Blogstats.de nutzen die Ping-Technik, um sich über neu gesetzte Hyperlinks zu informieren und daraus aktuelle Link- Hitparaden zu basteln. Diese Charts dienen als Aufmerksamkeitsmesser, sie geben Auskunft darüber, welche Themen gerade für Diskussionsstoff sorgen -- ob Unterwäsche, George W. Bush oder spannende neue Technologien.

"Blogs sind Gespräche", sagt Doc Searls. Eine Kommentarfunktion erlaubt den Lesern eine direkte Stellungnahme zu jedem Artikel. Zudem platziert ein Verfahren namens Trackback automatisch Rücklinks auf den Seiten eines verlinkten Blogs. So können grenzüberschreitende Debatten über mehrere Blogs entstehen. "Nichts ist fertig, alles bleibt in Bewegung", sagt Doc Searls. "Wir sind eben lernende und lehrende Wesen." Funktionen wie Trackback sind für Social-Software-Anwendungen typisch.