Das synthetische Coronavirus
Lebendimpfstoffe haben Pocken und Kinderlähmung ein Ende bereitet. Ein umstrittenes Forschungsprojekt setzt im Corona-Kampf auf eine ähnliche Strategie.
- Antonio Regalado
Vor 70 Jahren suchte Albert Sabin nach einem verbesserten Impfstoff gegen die Kinderlähmung. Zu diesem Zweck infizierte er in seinem Labor die Gehirne von Mäusen, Schimpansen und Affen mit dem krankheitsauslösenden Virus. Der Forscher und sein Team wollten sehen, ob der Erreger sich verändern und eine abgeschwächte Form aus dem Experiment hervorgehen könnte.
Tatsächlich gelang es ihnen, Varianten des Polio-Virus zu isolieren, die zwar immer noch Menschen infizieren konnten, aber keine Lähmung auslösten. Sabins abgeschwächte Virenstämme ("attentuated strains") wurden zu der berühmten, oral verabreichten Polio-Impfung, die Milliarden Kinder in Form von Zuckerwürfeln einnahmen.
Nun glauben Wissenschaftler, dass die synthetische Biologie einen Weg zeigen könnte, eine schwache Form des COVID-19-Erregers herzustellen. Es könnte dann, so der kühne Plan, in Form von preisgünstigen Nasentropfen auf der ganzen Welt verteilt werden.
Lebendviren in die Nase träufen
Das Start-Up-Unternehmen, das hinter dieser abgeschwächten Variante von SARS-CoV-2 steckt, nennt sich Codagenix. Die Firma arbeitet zusammen mit dem Serum Institute of India aus Pune und nach eigenen Angaben der größte Impfstoffhersteller der Welt. Verläuft alles nach Plan, sollen die ersten Freiwilligen ab November das synthetisch hergestellte Virus im Rahmen von ersten Sicherheitstests am Menschen im Vereinigten Königreich erhalten
Die COVID-19-Impfstoff-Kandidaten, die am weitesten fortgeschritten sind, darunter die von AstraZeneca und Moderna Pharmaceuticals, setzen den Menschen nur einem Teil des Virus aus, das kronenartige Spike-Protein, dem es seinen Namen zu verdanken hat und das als Schlüssel in die Zellen dient. Dagegen sollen sich Antikörper bilden. Der mögliche Vorteil eines Impfstoffes, das mit schwachen Lebendstämmen arbeitet, ist die Tatsache, dass der Körper das ganze Virus kennenlernt und in der Lage gebracht wird, auf es zu reagieren. Der Mensch würde es sich über die Nase "einfangen" – wie auch bei normalen Coronaviren – und es würde sich sogar im Körper vermehren. In der Theorie könnte das dazu führen, dass nicht nur Antikörper entstehen, sondern auch T-Zellen und stärkere Abwehrkräfte im Nasengang, die zu einem größeren Schutz führen würden.
Es mag beängstigend klingen, sich absichtlich mit dem Coronavirus zu infizieren, doch Impfstoffe mit abgeschwächten Viren sind üblich. Die Kinder-Grippe-Impfung FluMist arbeitet etwa so. Und das Serum Institute verkauft pro Jahr mehr als 750.000 Impfstoffdosen, die Masernviren enthalten. Die einzige Krankheit, die jemals erfolgreich auf dem ganzen Planeten ausgelöscht wurde, die Pocken, wurde mit Lebendviren beseitigt. "Wenn man die immunologische Reaktion vervollständigen will, dann muss man den Verlauf der Krankheit nachahmen", sagt Rajeev Dhere, Direktor des Serum Institute. "Das kann nur mit abgeschwächten Lebendimpfungen geschehen."
Das Virus kopieren und schwächen
In der Vergangenheit war es ein aufreibender Prozess, einen geschwächten Stamm zu finden, der als Impfung genutzt werden könnte, sagt Stanley Plotkin, der Codagenix berät und schon an frühen Polio-Studien beteiligt war. Das hatte den Grund, dass ein Virus in Zellen anderer Spezies gezüchtet werden musste und man dann darauf wartete, bis ein schwächerer Stamm durch Zufall entstand. Das kann durchaus 10 Jahre dauern. Manchmal wird ein sich passend verhaltender Stamm nie gefunden.
Ein neuer, besserer Ansatz kam 2002 auf. Eckard Wimmer, ein Virologe an der Stony Brook University, erschuf ein Polio-Virus allein aus einem genetischen Bauplan. Kreation im Reagenzglas, nannte es die Presse – und die bioterroristische Gefahr gilt nicht als gering. Manche nannten Wimmers Forschung unverantwortlich. Doch die Technologie, Viren so synthetisch zu erschaffen, ermöglichte es Forschern, kreativ zu werden, denn die Prozedur lässt zu, das Virengenom nach Belieben neu zu schreiben. "An dieser Stelle kommt synthetische Biologie hinzu, Genome-Editing. Man kann die gewünschte Evolution, die Jahre braucht, auf Tage reduzieren", sagt Farren Isaacs, Biologe an der Yale University.
Anstatt nun gefährliche Bakterien oder Viren herzustellen, begannen Wimmer und J. Robert Coleman, der zu dem Zeitpunkt Mitarbeiter von Wimmers Labor war und nun CEO von Codagenix ist, bis zum Jahr 2008 zu zeigen, wie synthetische Biologie genutzt werden kann, um abgeschwächte Versionen von Polio herzustellen. "Synthetic Attenuated Virus Engineering" nennt sich das Verfahren.
Corana-Effizienz gebremst
Das Ergebnis: Das im Labor gebaute Virus sieht von außen so aus wie das echte, hat aber im Inneren "praktisch ein Bremspedal", wodurch es sich sehr viel langsamer vervielfältigt. Normalerweise kann das Coronavirus sich innerhalb eines Tages 100 Millionen Mal in einer Zelle kopieren, doch Coleman sagt, dass seine abgeschwächte Form sich nur halb so häufig im Labor vermehren kann. In einem Menschen könnte seine Effizienz gar um den Faktor 1000 verringert sein, was dem Immunsystem Zeit geben würde, zu reagieren.
Einige Wissenschaftler sehen allerdings keinen Raum für Lebendimpfungen im Kampf gegen COVID-19. "Es handelt sich um die Impfung gegen ein einfaches, dummes Virus", sagt Michael Farzan, ein Spezialist am Scripps Research Institute. Seiner Ansicht nach ist das Virus im Spike-Protein am angreifbarsten und das auf eine Weise, die es verletzlich macht für Antikörper, die normale Impfungen generieren könnten. "Man braucht nur dann lebend geschwächte Viren, wenn man nichts hat, was sicherer ist. In diesem Fall birgt es unnötige Risiken. Es braucht keine Lebendviren, die sich in einem vermehren."
Das Serum Institute arbeitet an der Herstellung von vier möglichen Coronavirus-Impfungen, einschließlich von Kandidaten der Oxford University und von Novavax, einem US Biotech-Unternehmen. Diese befinden sich in einem fortgeschrittenen Teststadium, doch es gibt keine Garantie, dass sie funktionieren werden. Zudem könnte es zu Versorgungsproblemen kommen. Dhere nennt die Lebendimpfung so etwas wie einen Backup-Plan für das Serum Institute. Solche Impfungen werden hergestellt, indem man eine alte, gut etablierte Technik verwendet und sie kann ohne Nadel vollzogen werden. "Die orale Polio-Impfung ist so erfolgreich in der Welt, weil es nur ein paar Tropfen in den Mund eines Kindes sind. Da braucht man kein großes medizinisches Zubehör. Also hatten wir den Eindruck, dass wir mitten in einer Pandemie als einfachste Impfversion etwas brauchen, das in Milliarden von Dosen hergestellt werden könnte. Wenn es um die Masse geht, halten wir den intranasalen Ansatz für den besten."
Was sind die Risiken?
Ein abgeschwächtes Virus kann Menschen mit einem beeinträchtigten Immunsystem immer noch gefährlich werden. Ein anderes Risiko besteht darin, dass das Virus in seine gefährlichere Form "umschlagen" könnte. "Wir werden immer gefragt, ob das passieren könnte", sagt Coleman. Mit Polio ist genau das schon vorgekommen. In den vergangenen Jahrzehnten wurden mehr Ausbrüche durch Impfstämme ausgelöst als durch das natürliche Virus selbst.
Laut Plotkin liegt das daran, dass nur "relative wenige" Mutationen von Sabins Impfstamm sich von der natürlichen Polio unterscheiden, und das abgeschwächte Virus (das sich sehr wohl innerhalb von Menschen vermehrt und sich auch über Kontakte verbreitet) letztlich zu seiner Urversion zurückmutieren könnte. Im Gegensatz dazu hat das reduzierte Coronavirus mehrere hundert genetische Veränderungen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es evolutionär dazu kommen würde, dass auch nur ein Bruchteil von ihnen rückgängig gemacht werden könnten, sei mathematisch winzig. "Ich halte das für unmöglich", so Dhere.
Nicht die Rückkehr zur gefährlichen Variante sei das größere Risiko, sagt er, sondern dass das natürliche Coronavirus auf eine Weise mutieren wird, welche die Wirkung bestimmter Impfstoffe sabotieren kann. Bislang hat sich das Coronavirus noch nicht substanziell verändert: Tatsächlich ist es bislang bemerkenswert stabil geblieben. Doch sollte das Spike-Protein sich verändern, würden die Haupt-Impfkandidaten weniger wirksam sein, da sie nur dieses Molekül erkennen. Eine abgeschwächte Lebendimpfung, die alle Teile des Virus beinhaltet, hätte dieses Problem womöglich nicht. "Wir wollen das Virus nicht jagen, wenn es sich verändert", sagen die Forscher. Doch auch wenn es dazu kommt, "hätten wir immer noch eine Impfung, die dem Virus zu 99 Prozent ähnelt".
(bsc)