Der Code macht die Musik

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Aber ihre wahre Wirkung entfaltet die programmierte Musik, wenn wir es gar nicht merken. Sie dudelt in Kaufhäusern oder Warteräumen, um dem Anwesenden ein wohliges Gefühl zu geben. Es sind Lieder, die man nebenbei hören kann, die nicht wehtun, kaum auffallen. Oft steht dahinter eine ganz rationale Überlegung: Lieder in Dur zum Beispiel machen die Hörer zufriedener, und zufriedene Kunden kaufen mehr. Es ist Musik in Endlosschleife, einfach herzustellen, massenhaft verfügbar – in der Liebhaber allerdings eine kulturelle Entwertung sehen.

Mit Kunst oder Kreativität habe all das nur noch wenig zu tun, sagt Albert Gräf, Leiter des Bereichs Musikinformatik an der Universität Mainz. Bei Googles Pianomelodie aus dem Project Magenta etwa mag die Harmonie stimmen. Dennoch ist der Song zu gleichförmig und dramaturgiefrei, um spannend zu sein. Für Gräf ist die menschliche Kreativität daher noch genauso wichtig wie früher. "Auch bei der algorithmischen Komposition ist nicht der Computer kreativ, sondern der Mensch, der die Programme erstellt und sie durch seine Eingaben steuert."

Auch auf andere Weise droht der frühere Zauber der Musik verloren zu gehen. Selbst wenn Menschen sie komponieren, liefert ihre Grundlage immer öfter eine kühle Berechnung. Schon seit Jahren versuchen Forscher beispielsweise herauszufinden, welche Merkmale einen Song erfolgreich machen: die Songlänge? das Tempo? die Melodie? Hit Song Science heißt diese Wissenschaft. Eine der aktuellsten Studien dazu veröffentlichten Wissenschaftler der Universität Antwerpen Ende vergangenen Jahres.

Ihr Algorithmus sagte jedem der Top-10-Hits der britischen Single-Charts eine mehr als 60-prozentige Erfolgswahrscheinlichkeit voraus. Die Analyse erfolgte zwar im Nachhinein. Aber da der Computer rechnete, ohne die Hitparade zu kennen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Algorithmus auch wirkliche Prognosen erlaubt. Auf ihrer Software aufbauend, haben die niederländischen Forscher eine Webseite entwickelt, auf der professionelle Musiker oder Laien ihre Lieder hochladen können, um zu testen, wie viel Hitpotenzial diese haben.

Unterstützt wird die Suche nach dem nächsten Superhit durch die Digitalisierung des Musikhörens. Allein Spotify hat im vergangenen Jahr für rund 74 Millionen Nutzer mehr als 20 Milliarden Stunden Musik gestreamt, jeden Tag werden unzählige Songs auf Facebook geteilt. Dabei beobachten die Anbieter die Nutzer genau. Eines der ersten Unternehmen, das aus Big Data in der Musik ein Geschäft machte, war die Musikerkennungs-App Shazam: Wer im Club steht und einen guten Song hört, öffnet die App auf dem Smartphone und zeichnet ein paar Sekunden lang die Musik auf. Sekunden später erscheinen Songtitel und Künstler auf dem Display. Jeden Tag werden so rund 20 Millionen Suchanfragen analysiert.

Für Plattenfirmen sind diese Daten viel Geld wert. Früher schickten sie ihre Talentsucher nachts in Underground-Bars, um dort die Ohren nach neuen Künstlern offenzuhalten – eine mühselige und zeitaufwendige Suche. Mithilfe von Apps wie Shazam geht es schneller und einfacher. Im Jahr 2014 veröffentlichte das Unternehmen eine Karte, die zeigte, welche Lieder damals in New York, Mumbai oder São Paulo am häufigsten gesucht wurden. Plattenfirmen wie Republic Records setzen ihre Agenten nicht mehr in Bars, sondern vor den Rechner: Dort bekommen sie einen deutlich besseren Überblick, wo sich gerade ein neuer Song wie ein Virus verbreitet. Musikproduzenten können früher als je zuvor auf Trends reagieren und entsprechende Nachahmer auf den Markt bringen.

Künstler wie Max-Lukas Hundelshausen befürchten, dass die Musik dadurch nicht besser wird: "Musik ist ein Kulturgut, das sich nicht in Marktforschungsraster pressen lässt, ohne an Charisma zu verlieren." Superhits wie die "Bohemian Rhapsody" von Queen wären wohl von einem Algorithmus von vornherein aussortiert worden. Mit seinen knapp sechs Minuten Länge ist das Lied schließlich alles andere als radiotauglich. Definitiv ein Verlust für die Musikgeschichte.

Schon jetzt wird die sogenannte Mainstream-Musik gleichförmiger: Spaniens nationaler Forschungsrat kam 2012 zu dem Ergebnis, dass die internationalen Hits, die zwischen 2000 und 2010 gespielt wurden, weniger abwechslungsreiche Tonfolgen aufwiesen als die Musik in früheren Jahrzehnten.

Raum für Überraschungen wird es aber weiterhin geben, meint Musikinformatiker Thomas Troge. Allein deshalb, weil musikalischer Erfolg aus mehr besteht als nur einer guten Tonfolge. "Er ist immer auch ein sozialer Erfolg. Es geht nicht nur um den Song, sondern auch um den Künstler, der dahintersteht." Stars sind nicht nur wegen ihrer Stimme berühmt, sondern auch wegen ihres Aussehens und des Glamours, den sie ausstrahlen. Dazu kommt: "Auch die Gesellschaft verändert sich", so Troge. Was gestern noch beliebt war, kann heute schon als langweilig gelten.

Ein Garant dafür, dass Menschen die Stars der Zukunft sind, ist das dennoch nicht. In Japan etwa feiert die Sängerin Hatsune Miku seit Jahren regelmäßig Chart-Erfolge, Zehntausende Fans strömen zu ihren Konzerten. In diesem Jahr steht die erste Tour durch die USA an. Hatsune hat dünne Storchenbeine, türkises Haar, das bis zum Boden reicht, und noch nie ein Interview gegeben. Denn Hatsune ist keine reale Person, sondern eine Manga-Figur, die als Hologramm auf die Bühne projiziert wird und deren künstliche Gesangsstimme aus dem Synthesizer kommt. Der Kultfaktor stimmt dennoch. Wenn die Welt virtuell wird, warum nicht auch ihre Stars? (bsc)