Der Futurist: Botox für innen

Was wäre, wenn wir einen Jungbrunnen hätten?

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Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler

Die Stimmung im Zimmer war eisig. Nervös rutschte Dr. Calvin Abernathy ein Stück tiefer auf dem edlen Sessel. Gloria Vandermint sagte immer noch nichts. Die Noch-Ehefrau des Immobilienmoguls mit blonder Föhnfrisur hatte ihn in ihre New Yorker Penthouse-Wohnung mit Blick auf den Central Park zitiert und ihn dann erst mal eine Stunde warten lassen. Abernathy war sich nicht sicher, ob er sich wohler fühlte, nun vor ihr zu sitzen.

"Nächste Woche muss ich hier ausziehen, Doktor", sagte Gloria Vandermint schließlich. "Und das verdanke ich Ihnen."

"Mir?", erwiderte Abernathy in einer viel höheren Tonlage, als ihm lieb war.

"Ihnen, Sie Quacksalber! Jetzt sagen Sie nicht, Sie wussten nicht, was Sie mir für ein Schrottzeug andrehen."

"Ich schwöre, dass ich immer höchste Qualität bezogen habe", sagte Abernathy und setzte sich ein bisschen gerader hin.

"Aber Sie haben irgendwann den Hersteller gewechselt, nicht wahr?"

"Ich, ähm, weiß nicht, was Sie meinen."

Aber natürlich wusste er es. Die unangenehme Unterredung mit Gloria Vandermint war vermutlich nur die erste, die auf ihn wartete. Seine Praxis konnte er einstampfen. Jeder in New York, ach was, in den gesamten USA hatte den Artikel in der Boulevardpresse gelesen. Die Autoren hatten den Hype um Telomeron beschrieben und dabei nicht nur seine Praxis als eine der ersten Adressen erwähnt, sondern auch die Identität von Kundinnen wie Gloria Vandermint aufgedeckt.

Das Originalmittel war 2017 auf den Markt gekommen und wurde bald als Jungbrunnen bejubelt. Es verjüngte alle Zellen des Körpers, indem es die Schutzkappen von Chromosomen – die sogenannten Telomere – verlängerte. Normalerweise werden die Kappen im Laufe des Lebens kürzer, weil ihre Reparatur immer schlechter funktioniert. Wer sich aber Telomeron spritzen lässt, sieht fortan dauerhaft so jung aus, wie er zum Zeitpunkt der Erstbehandlung war.

Auch seine Organe bleiben runderneuert. Zumindest solange man sich das Original leisten kann. Leider hatten die Reporter auch herausgefunden, dass Abernathy irgendwann begonnen hatte, billigere chinesische Telomeron-Versionen zu spritzen. Natürlich für den Preis des Originals. Die Nachahmer-Präparate wirkten allerdings sehr unterschiedlich und nicht so ganz gleichmäßig auf alle Organe. Wenn man Pech hatte, alterten ausgerechnet die Haarfollikel normal weiter und verrieten den Betrug durch graue Haare.

Gloria Vandermint sieht immer noch wie 25 aus, dachte Abernathy anerkennend. Deshalb hatten sich auch alle gewundert, als die Presse meldete, ihr Mann wolle sich scheiden lassen. Sie hatten erst vor zehn Jahren geheiratet. Mickey Vandermint hatte für sie seine 48-jährige dritte Frau verlassen. Gloria war am ersten Tag nach den Flitterwochen in Abernathys Praxis erschienen, um sich mit Telomeron behandeln zu lassen. Auf Geheiß ihres Mannes, wie Abernathy angenommen hatte.

Doch sie musste schon lange vorher damit angefangen und dabei auch schon Billig-Telomeron angedreht bekommen haben. Auch das hatte die Boulevardpresse enthüllt und damit den wahren Grund für die Scheidung geliefert: Vandermint war auf eine besondere Sorte Heiratsschwindlerin reingefallen. Gloria war in Wahrheit nicht 35 Jahre alt, sondern bereits 60. Jemand hatte die Ergebnisse ihres letzten Organscreenings der Presse zugespielt.

Abernathy ahnte, was auf ihn zukommen würde: Gloria würde auf Entschädigung klagen. Er begann zu rechnen. Nach einem neuen Gesetz richtete sich die Höhe der Summe nach der noch zu erwartenden Lebenszeit. Aber wie alt war Gloria eigentlich? 50 Jahre, wie der Zustand ihres Herzens nahelegte? Oder nur 35 Jahre wie die Leber? (vsz)