Der Mann, der den Alkohol zähmt

Seite 2: Spaß ohne Folgen

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Er wollte damit kritisieren, dass Großbritannien Drogen nicht anhand wissenschaftlich belegbarer Schäden klassifiziert, sondern den Besitz und Verkauf von unterschiedlich schädlichen Drogen gleich hart bestraft. Denn der Mediziner bezweifelt die Macht der Abschreckung und plädiert für Strafen, die sich nach dem Schadenspotenzial richten. Ob eine Substanz abhängig macht oder nicht, ist für ihn zweitrangig. Wichtig sei, welche Gesundheitsschäden der Missbrauch nach sich ziehe und was mehr Leben koste.

Seine Antwort gibt Nutt im 2012 auf Englisch erschienenen Buch "Drugs – Without the Hot Air" (Drogen ohne die heiße Luft) am Beispiel Ecstasy. Das frühere Psychotherapie-Medikament wurde wegen seiner chemischen Ähnlichkeit mit Psychedelika wie LSD verboten, obwohl es nur selten diese Wirkung hat. Es kann laut Nutt durchaus psychisch abhängig machen, verursache aber keine körperlichen Entzugserscheinungen und mache im Gegensatz zu Alkohol nicht aggressiv. Aufgrund der aufputschenden Wirkung kam es bei Clubgängern in Mode, zog aber aufsehenerregende Todesfälle nach sich. Sie gingen jedoch Nutt zufolge meist nicht direkt auf Ecstasy zurück, sondern waren während der durchtanzten Wochenenden die Folge von Dehydrierung und Überhitzung in schlecht belüfteten Discos. Als die Clubs Wasser und Räume zum Abkühlen zur Verfügung stellten, sank die Zahl der Todesfälle deutlich.

Trotzdem ordnet Großbritannien Ecstasy bis heute auf einer Stufe mit Heroin und Kokain in die gefährlichste Drogenkategorie ein. Nutts Beratungsgremium empfahl mehrfach eine Herabstufung, biss bei der Regierung allerdings auf Granit. Denn Drogen gelten in der britischen Gesellschaft nicht nur als schädlich, sondern auch als hochgradig verwerflich. Dass diese moralischen und gesetzlichen Maßstäbe aber für Alkohol nicht gelten, dahinter sieht Nutt die mächtige Alkohollobby am Werk. Sein Fachkollege Jan van Amsterdam von der Universität Amsterdam sieht die Lage nicht ganz so dramatisch. Er hat eine große EU-Studie nach dem Vorbild von Nutt über die Risiken verschiedener Drogen geleitet. Der niederländische Psychiater glaubt zwar, dass man beim Alkohol mit Regulierung und sozialer Kontrolle ziemlich gut hinkomme. Trotzdem teilt er Nutts grundsätzliche Überzeugung: Aufgrund des breiten Konsums bleibe Alkohol ein großes Problem.

"Ein Alkoholverbot würde allerdings nichts bringen", gibt Nutt zu. Also will er einen Ersatz entwickeln, der Spaß ohne Folgen bedeutet. Wie aber soll das gehen? Nutt versucht, nur die gewünschten Schaltkreise im Gehirn anzusprechen. Der Clou seiner Substanzen sei, dass sich ihre Wirkung mit steigendem Konsum nur bis zu einem bestimmten Niveau verstärke. "Diesen Plateau-Effekt erreichen wir durch sogenannte Partialagonisten", erklärt Nutt. "Sie setzen an denselben Rezeptoren an wie Alkohol, lösen aber nicht den maximalen Effekt aus."

Mehr chemische Details will der Wissenschaftler nicht preisgeben. Denn wenn das Produkt fertig ist, will er es verkaufen. Nach zehn Jahren Forschung hat er Ende 2016 das Start-up Alcarelle gegründet. Experten aus der Wirtschaft helfen ihm bei der Vermarktung, denn "ich bin offensichtlich kein Geschäftsmann", sagt er schmunzelnd. Sein Job ist es, aus den fünf Substanzen, die von mehr als 80 getesteten Varianten noch im Rennen sind, diejenige zu finden, deren Wirkung Alkohol am nächsten kommt. Diese muss sich dann in teuren Lebensmittel-Sicherheitstests bewähren.

Alcarelle wird kein eigenständiges Produkt sein, sondern eine Basiszutat für die Getränkeindustrie – ähnlich wie der Süßstoff Stevia. Was den Erfolg betrifft, gibt sich Geschäftsführer David Orren optimistisch: "Das öffentliche Interesse war nach Presseberichten jedes Mal groß. Wir wurden mit E-Mails überschüttet." Der stetig wachsende Markt für alkoholfreie Biere oder zuckerfreie Süßwaren stimmt ihn hoffnungsvoll, dass es noch Platz für weitere alkoholfreie Produkte gibt. Große Getränkehersteller hätten bereits Interesse signalisiert.