Die Kulmbacher Kröte
Mit einem eigenen Unternehmen wollten zwei deutsche Forscher die Medizin voranbringen. Doch wegen Geldmangels landete ihre Technologie in ausländischen Händen.
- Sascha Karberg
Wie man sich doch täuschen kann: Im Jahr 1999 bot der Bayreuther Biologe Roland Kreutzer dem Chemie- und Pharmakonzern Bayer eine neue Technik an, die krankmachende Gene des Menschen auf elegante Weise unschädlich machen sollte. Erste Belege dafür, dass das tatsächlich funktioniert, hatte der Forscher schon geliefert. Doch umsonst: Mit den knappen Worten "Wir sehen leider kein Zukunftspotenzial" lehnte Bayer nach Kreutzers Darstellung jede Investition in seine Idee ab.
Heute, ein knappes Jahrzehnt später, überbieten sich die Branchengrößen schier, wenn es darum geht, auf der Grundlage von Kreutzers Erkenntnissen ins Geschäft zu kommen. So zahlte der Schweizer Pharmakonzern Roche im vergangenen Sommer 331 Millionen Dollar, um sich Kreutzer, sein Labor und eine Lizenz für seine Technologie namens RNA-Interferenz (RNAi – siehe TR 4/04) zu sichern; je nach den weiteren Erfolgen kann die Lizenzgebühr weit über eine Milliarde Dollar erreichen. Der US-amerikanische Pharmariese Merck übernahm für 1,1 Milliarden Dollar die RNAi-Firma Sirna, und auch Pfizer, AstraZeneca und GlaxoSmithKline kauften jeweils für hohe dreistellige Millionensummen RNAi-Kompetenz zu. Bayer hätte das schon 1999 "sozusagen für 'nen Appel und 'n Ei" haben können, sagt Kreutzer, der heute in Kulmbach Roches neues Exzellenzzentrum für RNA-Technologien leitet. Sein früher Fokus auf RNAi hat den gebürtigen Franken einiges erleben lassen: Vom Forscher wurde er zum Unternehmensgründer, zum Beinahe-Pleitier und schließlich zum Fusionspartner – und dann zum Spielball fremder Interessen.
Dieser Weg begann im Februar 1998 am Stehimbiss nahe der Universität Bayreuth. "Ganz aufgeregt" habe sein langjähriger Kollege und Freund Stefan Limmer in der Mittagspause von einem Artikel im Fachmagazin "Nature" erzählt, berichtet Kreutzer. Die späteren Nobelpreisträger Andrew Fire und Craig Mello hatten doppelsträngige RNA-Moleküle in die Zellen von Fadenwürmern geschleust und so gezielt Gene stumm geschaltet, also die Umwandlung der Geninformation in ein Protein gestoppt. "Ein Durchbruch", sagt Kreutzer noch heute begeistert. Beide Forscher zusammen machten sich daran, das Verfahren auf Menschen zu übertragen. "Wir haben sofort an eine therapeutische Anwendung gedacht", sagt Kreutzer, obwohl nicht einmal die Forscher Fire und Mello so recht erklären konnten, was da in den Zellen eigentlich passierte. Kreutzer und Limmer störte das nicht, denn sie hatten laut Kreutzer schon länger vorgehabt, sich selbstständig zu machen.
Jetzt lag die zündende Idee vor ihnen. Sofort testeten sie die RNAi-Technik an menschlichen Zellen. Anders als die von Fadenwürmern reagieren menschliche Zellen auf doppelsträngige RNA eigentlich mit Selbstmord, denn auch viele Viren enthalten doppelsträngige RNA. Früher als irgendjemand sonst fanden Kreutzer und Limmer jedoch einen Weg, diese Selbstmord-Reaktion zu unterlaufen: Sie schufen besonders kleine RNA-Moleküle – zu klein, um die Selbstmord-Reaktion auszulösen, aber groß genug, um gezielt ein krankmachendes Gen verstummen zu lassen. Es klappte auf Anhieb.
1999 meldete das Duo das weltweit erste Patent auf RNA-Interferenz am Menschen an und gründete in Bayreuth die Biotechfirma Ribopharma. Limmer blieb im Labor, Kreutzer kümmerte sich um alles, was nicht mit Forschung zu tun hatte. Bis zum Sommer 2000 sammelten sie vier Millionen Euro Kapital ein. Doch dann wollten Investoren von Biotech plötzlich nichts mehr hören: Der Begeisterung während des Börsen-Booms folgte die Einsicht, dass mit Medikamenten kein schnelles Geld zu verdienen ist, weil ihre Entwicklung gut zehn Jahre dauert. "2001 haben wir bestimmt bei 50 Risikokapital-Gesellschaften vorgesungen", erinnert sich Kreutzer, "aber keiner hat sich getraut, genug Geld in die Hand zu nehmen." Er habe schon "mit dem Schlimmsten" gerechnet, da gründete sich in Boston die RNAi-Firma Alnylam. "Nicht nur, dass an Alnylam nahezu alle wichtigen RNA-Interferenz-Experten und ein erfahrenes Management beteiligt waren, allein als Gründungsfinanzierung hatte Alnylam 17 Millionen Dollar eingeworben", sagt Kreutzer. Ihm war sofort klar, dass Ribopharma dagegen nicht konkurrieren konnte. Also luden Kreutzer und Limmer die Amerikaner nach Kulmbach ein, wohin Ribopharma 2002 umgezogen war. Mitte 2003 war die Fusion von Ribopharma und Alnylam beschlossen.
Die erhoffte gleichberechtigte Partnerschaft wurde daraus allerdings nicht. Alnylam wollte sich vor allem die frühen RNAi-Patente sichern, wie Kreutzer heute sagt. Limmer musste 2005 gehen. Kreutzer, der sich administrative Aufgaben zu eigen gemacht hatte, blieb. Trotzdem, sagt auch Limmer, sei die Fusion letztlich die beste Lösung gewesen. Denn unter den schwierigen Finanzierungsbedingungen sei es in Deutschland damals nicht möglich gewesen, Ribopharma so weit zu entwickeln, dass das Unternehmen international konkurrenzfähig gewesen wäre.
Ribopharma wäre vielleicht nicht einmal übernommen worden, hätte nicht auch die deutsche Max-Planck- Gesellschaft (MPG) wichtige RNAi-Patente gehalten. Dort nämlich hatte der deutsche Biochemiker Thomas Tuschl gearbeitet, bevor er zum Alnylam-Mitgründer wurde. Alnylam wollte die darauf fußenden Patente exklusiv nutzen, aber MPG-Präsident Peter Gruss stellte dafür die Bedingung, dass das US-Unternehmen mindestens bis Ende 2007 eine RNAi-Firma in Europa am Laufen hält. "Wenn es nach Alnylam gegangen wäre, hätte es die Fusion nie gegeben", sagt Gruss heute. Doch die Amerikaner schluckten die Kulmbacher Kröte, denn die MPG-Patente wollten sie sich nicht entgehen lassen.
Alnylam hatte nun sowohl die Patente Tuschls als auch die von Kreutzer und Limmer eingesammelt. Damit war die "in vielerlei Hinsicht deutsche Entwicklung RNA-Interferenz", so Alnylam-Chef John Maraganore, gänzlich in US-Hand. Im Juni 2007 dann, am Morgen nach der fünfjährigen Geburtstagsfeier von Alnylam, wurde Kreutzer eröffnet, dass Roche eine Kooperation mit Alnylam vereinbart habe – und der Kulmbacher Standort an Roche übergeben werde. "Das war erst mal ein Schock", sagt Kreutzer, "wir dachten, Roche integriert uns irgendwo in Basel oder anderswo, und Kulmbach wird dichtgemacht." Beruhigen konnte er sich erst, als er hörte, dass Roche Arbeitsplätze und Standort bis 2009 garantiert. Limmer vermutet, dass Alnylam seinerseits die Übernahme von Ribopharma zur Bedingung für das Geschäft mit Roche gemacht hatte. Tatsächlich hatte sich Alnylam bei der MPG schon vor dem Roche-Deal erkundigt, ob die Vereinbarung vorzeitig aufgelöst werden könnte. Zudem schlägt der Verkauf der Kulmbacher Filiale in dem Milliarden-Vertrag nur mit 15 Millionen Dollar zu Buche. "Ein Schnäppchen für Roche", spöttelt Limmer, allein die Gerätschaften seien mehr wert.
Warum aber geben Roche und andere Pharmagrößen Hunderte Millionen aus, wo Bayer "kein Zukunftspotenzial" sah? "Eine Investition in eine neue Technologie ist immer ein Risiko", sagt Roche-Forschungschef Lee Babiss. Aber es sei auch gefährlich, nicht rechtzeitig ins Spiel einzusteigen. Roche ist in den siebziger und achtziger Jahren das hohe Investitionsrisiko eingegangen, das damals mit gentechnisch hergestellten Wirkstoffen oder Antikörpern noch einherging. Heute sind rund die Hälfte seiner zugelassenen neuen Wirkstoffe solche Biotherapeutika. "Wir hoffen, dass RNA-Interferenz ein wichtiges Therapie-Prinzip sein wird", sagt Babiss, "es wird sich zeigen, ob wir zu früh, zu spät oder zu viel investiert haben." (bsc)