Die Mär vom rasenden Fortschritt

Seite 2: Entwicklung kommt nicht in Lichtgeschwindigkeit

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Wer bei der Deutschen Börse nachfragt, erhält eine ähnliche Reaktion. Im Dax, dem Aktienindex der 30 größten und umsatzstärksten deutschen Unternehmen, zeigt sich vor allem eins: zähe Konstanz. Seit der ersten Zusammenstellung im Dezember 1987 wurde im Schnitt pro Jahr etwa ein Unternehmen ausgetauscht. Zwischen 2012 und 2015 blieb die Zusammensetzung sogar konstant. 2016 gab es einen Wechsel. Und im technologieorientierten TecDax, in dem die 30 größten und umsatzstärksten deutschen Technologiewerte vertreten sind? Dort fallen im Schnitt immerhin zwei bis drei Unternehmen pro Jahr heraus. Wer aber genauer hinsieht, erkennt, dass sich oft kaum mehr als die Namen der beteiligten Unternehmen ändern: Ein gutes Beispiel dafür ist Jenoptik. Im März 2003 war es in der ersten Zusammenstellung enthalten, heute taucht der Name nicht mehr auf, dafür die Carl Zeiss Meditec AG, ebenfalls aus Jena und ein Tochterunternehmen der Carl Zeiss AG.

Beide verdienen ihr Geld mit optischen Technologien und haben ursprünglich sogar die gleichen Wurzeln: 1846 eröffnete der Mechanikermeister Carl Zeiß seine feinmechanisch-optische Werkstatt in Jena. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Unternehmen aufgespalten: Das Jenaer Werk wurde als VEB Carl Zeiss Jena in die DDR-Staatsindustrie integriert und wuchs schnell: In den 1980er-Jahren umfasste das Zeiss-Kombinat 25 Betriebe mit bis zu 70000 Beschäftigten. Im Westen wurde in Oberkochen die Opton Optische Werke Oberkochen GmbH gegründet, die später umbenannt wurde in "Zeiss-Opton Optische Werke Oberkochen GmbH". Das Unternehmen verbesserte die Brillengläser-Technologie und baute unter anderem das weltweit am häufigsten verkaufte Mikroskop sowie eines der ersten Elektronenmikroskope. Nach der Wiedervereinigung entstanden zahlreiche Tochterunternehmen, darunter die Meditec AG. Disruption sieht anders aus.

Die Psychologie

"In der Regel kommt die Entwicklung nicht mit Lichtgeschwindigkeit", sagt Kai Goerlich, Chief Futurist des Softwarekonzerns SAP und als solcher qua Stellenbeschreibung auf Veränderungen gepolt. "Ich als Biologe setze eher auf das Prinzip Evolution." Das Gerede von der überraschenden und schlagartigen Disruption hält er für wenig zielführend. Denn eine häufige Reaktion darauf ist: Festhalten am Alten und Klage darüber, dass alles viel zu schnell geht, um ein Unternehmen rechtzeitig darauf einzustellen.

Tatsächlich beobachtet das DIW hierzulande eine ausgesprochen schwache Investitionstätigkeit. "Das kann Ausdruck einer hohen Unsicherheit über die neue digitale Welt sein", sagt DIW-Ökonom Gornig. "Die Unternehmen wissen nicht, ob ihre bisherigen Technologien noch zukunftsfähig sind." Doch diese Furcht verhindert Kreativität, und ohne sie fehlen neue Ideen. "Wenn ich angstgetrieben auf die Disruption schaue, nehme ich Chancen nicht mehr wahr", sagt Goerlich. Wer gelähmt wie das Kaninchen vor der Schlange sitzt, muss sich nicht wundern, wenn sie zubeißt. Das liegt dann aber nicht an der Schnelligkeit der Schlange. Viele vermeintliche Umwälzungen seien erstens "technologisch nicht wirklich verblüffend" und kämen zweitens meist mit langem Anlauf. Man denke nur an den Übergang von der SMS zu WhatsApp. Die Kommunikationsfunktion sei die gleiche geblieben. "Wenn das als Revolution gesehen wird, ist das gutes Marketing von WhatsApp."

Warum glauben dennoch so viele an die These? Weil unser Zeitgefühl sie als zutreffend erscheinen lässt, meint die Philosophin Yvonne Förster von der Universität Lüneburg. Ursache sei die gestiegene Informationsdichte. "Vor 30 Jahren war ein normaler Tagesablauf: arbeiten, einkaufen, essen, ,Tagesschau' sehen." Wenn es hoch kam, gab es die Zeitung schon zum Frühstück: Das Weltgeschehen hatte seinen festen Platz. Heute fällt es uns an, sobald wir das Handy einschalten. "Deshalb haben wir den Eindruck, die Zeit vergeht schneller", sagt Förster. Das Leben scheint dichter zu werden, überall auf einmal Neues aufzukommen. "Aber es gibt kaum Phänomene, die objektiv als beschleunigt beschrieben werden können".

Bei dieser Analyse könnte man es belassen und sich beruhigt zurücklehnen. Wenn sich alles doch nicht so schnell ändert, kann man auch weitermachen wie bisher. Das aber wäre ein Fehler. Denn die Beschleunigung mag lediglich gefühlt sein. Aber hinter diesem Gefühl verbirgt sich ein ernstes Problem. Und das lässt sich nicht aussitzen.

Um den Gedankengang zu veranschaulichen, holt Goerlich Stift und Papier aus der Tasche. Dann zeichnet er eine Kurve. Es sind die langen Wellen des russischen Ökonomen Nikolai Kondratjew, die die langfristige Konjunkturentwick-lung in Zyklen von 40 bis 60 Jahren beschreiben. Am Beginn jeder Welle steht eine neue Technik, die zu Veränderungen führt. So wurde die erste lange Welle von 1787 bis 1842 laut Kondratjew durch die Erfindung der Dampfmaschine ausgelöst. Goerlich zeigt auf die jüngste, fünfte Welle etwa ab Beginn der 70er Jahre: Die Informations- und Kommunikationstechnologie steht am Anfang. Goerlichs Kurve steigt nur sehr langsam. "Hier werden die Technologien erfunden." Das Mobiltelefon etwa stammt von 1973. Dann wird der Anstieg immer steiler, schließlich verharrt der Stift an der steilsten Stelle der Kurve, kurz vor dem Plateau etwa im Jahr 1990. "An diesem Punkt bemerken die Unternehmen, dass es eine neue Technologie gibt", sagt Goerlich. Weil die Grundlagen vorhanden sind, kann die Entwicklung schnell vonstatten gehen.

Und dieser letzte, rasche Anstieg der Kurve prägt die Wahrnehmung. Die Ursache für hektische Betriebsamkeit ist daher nicht der rasante Fortschritt. Sondern die Unbeweglichkeit vorher. Auf dem falschen Fuß erwischt die Entwicklung nur jene, die den langen Anlauf übersehen und seinen transformativen Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft unterschätzt haben. "Die Wirtschaft hinkt oft 15 bis 20 Jahre hinterher", kritisiert Goerlich.1976 kam der erste für Privathaushalte erschwingliche PC auf den Markt (Apple I). 1990 erfand der britische Informatiker Tim Berners-Lee das weltweite Netz – und "es hat 20 Jahre gebraucht, bis es wirklich eingeschlagen ist". Viele Unternehmen bemerken neue Technologien erst dann, wenn die Kurve schon fast wieder auf dem absteigenden Ast ist. Wenn sie dann Produkte und Geschäftsmodelle entwickeln, übersehen sie, dass bereits das nächste Neue entsteht.