Die X-Akten der Astronomie: Der hyperschnelle Kugelsternhaufen HVGC-1
Seite 3: Schwarze Speerschleuder
Caldwell et al. präferieren eine andere These. Ein Swing-by an einem schnell bewegten, massiven Objekt wäre denkbar. Swing-by-Manöver sind in der interplanetaren Raumfahrt eine gerne genutzte Möglichkeit, um Raumsonden Treibstoff sparend von Planet zu Planet zu katapultieren. Das Prinzip ist das gleiche, wie beim Wurf eines Balls gegen ein schnell entgegenkommendes Fahrzeug. Beispielsweise würde ein Ball, der mit 10 km/h einem mit 100 km/h entgegenkommenden LKW in den Weg geworfen würde, mit 210 km/h zurückprallen. Denn aus Sicht des LKW käme der Ball ihm mit 110 km/h entgegen und würde entsprechend mit 110 km/h Relativgeschwindigkeit von seiner Motorhaube abprallen (der Verlust an Verformungsenergie zur Erzeugung der unvermeidlichen Beule sei hier vernachlässigt). Aus Sicht des Werfers kämen zu den 110 km/h noch die 100 km/h der Bewegung der Motorhaube hinzu.
Um bei einem Swing-by Schwung an einem Planeten zu holen, manövriert man die Raumsonde dicht hinter dem Planeten (in Bezug auf dessen Bewegungsrichtung) vorbei. Aus Sicht des Planeten nähert sich die Sonde mit derselben Geschwindigkeit, mit der sie sich später wieder entfernt, aber aus Sicht der ruhenden Sonne addiert sich die Geschwindigkeit des Planeten zu derjenigen der Sonde. Wenn man den Kurs so wählt, dass die von der Schwerkraft des Planeten abgelenkte Bahn der Sonde ungefähr in dessen Bewegungsrichtung gedreht wird, dann wird sie von ihm wie von einer Speerschleuder nach vorne beschleunigt. Analog kann man die Sonde verlangsamen, wenn man sie vor dem Planeten vorbeilenkt und dieser die Bahn gegen seine Bewegungsrichtung ablenkt, dann subtrahiert sich seine Bahngeschwindigkeit von derjenigen der Sonde.
Caldwell et al. schlagen den Swing-by-Mechanismus für die Beschleunigung von HVGC-1 vor – und zwar mit einem bisher unentdeckten Binärpartner von M87*, einem anderen supermassereichen Schwarzen Loch aus einer früheren Galaxienkollision, das M87* eng umkreist. Bei einer Masse von 1/10 derjenigen von M87* in einem Abstand von höchstens 5,5 Lichtjahren würde es M87* schnell genug umkreisen, um ein innerhalb von drei Lichtjahren passierendes Objekt auf mehr als 2300 km/s zu beschleunigen – allerdings würde die Gezeitenkraft einen Kugelsternhaufen größtenteils auseinanderreißen, nur ein Radius von 1/3 Lichtjahr um seinen Kern würde zusammen bleiben. Bei einem Massenverhältnis von 1:3 der Schwarzen Löcher und einem Vorbeiflug im Abstand von 6,5 bis 10 Lichtjahren könnte ein Kernradius von rund einem Lichtjahr die Passage überleben und bei einer Anfangsmasse von mehr als 10 Millionen Sternmassen könnte dieser Kernbereich noch mehr als eine Million Sternmassen beinhalten. Laut anderer Arbeiten sei M87* gegenüber dem Zentrum von M87 versetzt, was ein Indiz für einen Begleiter von 1/10 seiner Masse oder eine Verschmelzung mit einem solchen in jüngerer Vergangenheit wäre. Caldwell et al. schlagen Simulationen vor, um das Szenario zu verifizieren; sie haben selbst nur rechnerische Analysen durchgeführt.
Eine Variante der Theorie geht statt eines binären Schwarzen Lochs von einem Doppel-Kugelsternhaufen aus, der gemäß dem Hills-Mechanismus entzweit wurde. Allerdings hat noch niemand einen binären Kugelsternhaufen beobachtet und es gibt Arbeiten, die nahelegen, dass ein solches Paar nicht stabil wäre und bald nach seiner Entstehung verschmelzen müsste.
Insgesamt kann keiner der vorgestellten Erklärungsansätze überzeugen. Gerade die Variante eines binären supermassereichen Schwarzen Lochs scheint wenig wahrscheinlich, weil Kugelsternhaufen mehrere Dutzend Lichtjahre durchmessen, während die zitierte Konfiguration der Schwarzen Löcher auch im günstigsten Fall höchstens 10 Lichtjahre Abstand zwischen den Komponenten erlaubt. Es ist schwer vorstellbar, dass der die Passage überlebende Kernbereich eines Kugelsternhaufens noch 3 Millionen Sonnenmassen in sich vereinen kann, was schon für einen Kugelsternhaufen insgesamt eine ungewöhnlich große Masse ist.
Aber Halo!
Eine plausiblere Erklärung lieferte 2015 Johan Samsing von der Universität Kopenhagen. Seiner Ansicht nach kann die frontale Kollision zweier Galaxien-Halos für bestimmte Teilchenbahnen eine doppelte Beschleunigung ermöglichen, die er als Doppelstreuung (Double-Scattering) bezeichnet. Das zu beschleunigende Objekt umkreise den kleineren Halo, der sich frontal auf das Zentrum des größeren zubewege. Das Objekt befinde sich dabei aus Sicht des größeren Halos hinter dem Zentrum des kleineren Halos.
Beim Passieren des Zentrums des größeren Halos wird das Objekt durch die Schwerkraft desselben so abgelenkt, dass es näher an das Zentrum des kleineren Halos gezogen wird, ohne dass sich die Geschwindigkeit seines Umlaufs verkleinert. Insgesamt gewinnt das Objekt Energie. Wenn die Bahn im weiteren Verlauf hinter dem kleineren Halo entlang führt, hat man aus der Sicht des größeren Halos als Bezugssystem die analoge Situation eines Swing-by-Manövers an einem Planeten aus Sicht der Sonne: Der kleine Halo lenkt die Bahn des Objekts in seine Bewegungsrichtung um und zieht es mit sich mit. Dadurch erhält es einen zusätzlichen zweiten Kick.
Bei einem Massenverhältnis der Halos von 1:10 kam Samsing in Simulationen auf eine Endgeschwindigkeit vom bis zu doppelten Betrag der üblichen ("virialen") Geschwindigkeiten gebundener Teilchen im Halo, die bei M87 im Bereich von 900 bis 1300 km/s liegen. Damit wäre also die Radialgeschwindigkeit von HVGC-1 von 2300 km/s relativ zu M87 erklärbar. Kollisionen mit kleineren Galaxien hat M87 als eine der zentralen Galaxien im Virgo-Haufen definitiv schon oft erlitten und auch die eine oder andere zentrale Kollision mag darunter gewesen sein. HVGC-1 wäre dann ein ehemaliger Kugelsternhaufen einer von M87 mitsamt Halo verschluckten Galaxie.
Damit widerspricht Samsing der Aussage Caldwells, dass bei der Interaktion von Galaxien – bei denen die Halos wegen ihres Massenübergewichts stets der dominierende Faktor sind – die Geschwindigkeiten der fortgeschleuderten Objekte nicht groß genug seien, um die Geschwindigkeit von HVGC-1 zu erklären.
Auf der anderen Seite bleibt natürlich sein Einwand bestehen, warum nur genau ein Objekt mit einer so großen Geschwindigkeit fortgeschleudert wurde. Die kollidierende kleinere Galaxie müsste dann wohl nur wenige Kugelsternhaufen in ihrem Halo mitgebracht haben. In jedem Fall erscheint Samsings Theorie plausibler als Caldwells Beschleunigungsmechanismus per binärem supermassivem Schwarzen Loch. Caldwell und seinem Team verbleibt aber die Ehre, den Kugelsternhaufen entdeckt zu haben.
- Nelson Caldwell, Jay Strader, Aaron J. Romanowksy et al., “A Globular Cluster Toward M87 with a Radial Velocity < -1000 km/s: The First Hypervelocity Cluster”, The Astrophysical Journal Letters, Volume 787, Number 1, 6. Mai 2014.
- Johan Samsing, “A Gravitational Double Scattering Mechanism for Generating High Velocity Objects”, The Astrophysical Journal, Volume 799, Number 2, 23. Januar 2015.
[Update 17.09.2020 – 10:30 Uhr] Die Beispielrechnung zu dem Ball wurde korrigiert.
(mho)