Die X-Akten der Astronomie: KIC 8462852 - von großen und kleinen Abtauchern

Seite 3: Kein Einzelfall

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Interessanterweise ist Boyajians Stern nicht der einzige mit merkwürdigem Lichtwechsel. Das zeigt beispielsweise das ASAS-SN-Projekt (All Sky Automated Survey for SuperNovae), das mit Matrizen aus handelsüblichen 400-mm/f2,8-Teleobjektiven und Amateur-CCD-Astrokameras nach Supernovae in fernen Galaxien sucht, indem die Kameras den Himmel großflächig beobachten. Täglich findet ASAS-SN dabei veränderliche Sterne und einige zeigen fast ebenso merkwürdige Lichtwechsel wie Boyajians Stern, etwa der Stern ASASSN-V J213939.3-702817.4, der am 13. Mai 2014 entdeckt worden war, zunächst jedoch als nicht variabel klassifiziert wurde. Sein seltsames Verhalten zeigte sich erst 2018/2019. Eine entsprechende Meldung wurde am 4. Juni 2019 als Astronomer’s Telegram veröffentlicht und verlinkte die folgende Lichtkurve:

Die Lichtkurve des Sterns ASASSN-V J213939.3-702817.4 ähnelt derjenigen von KIC 8462852. Er taucht wie Boyajians Stern im Breakthrough-Listen-Katalog auf, wurde aber noch in keiner wissenschaftlichen Arbeit behandelt.

(Bild: Jayasinghe et al., The Astronomer’s Telegram #12836)

Abgesehen von den ASAS-SN-Lichtkurven, einem kleinen Wikipedia-Artikel und einer Erwähnung im Breakthrough-Listen-Katalog gibt es wenig Information über diesen Stern und anscheinend noch keine Veröffentlichung. Falls also jemand noch ein Promotionsthema sucht…

Als letzten im Terzett der seltsamen Abtaucher im Breakthrough-Listen-Katalog möchte ich noch den Stern HD 139139, auch als EPIC 249706694 bekannt, vorstellen. Der Stern wurde in der eingangs erwähnten Folgemission "K2" von Kepler beobachtet – seine Henry-Draper-Katalognummer zeigt, dass er schon vorher bekannt war, was wenig wundernimmt, da der Stern mit 9,68 Größenklassen schon in einem guten Feldstecher im Sternbild Waage zu sehen ist. Es handelt sich um einen G3V-Stern in 350 Lichtjahren Entfernung, der unserer Sonne sehr ähnelt, mit fast gleicher Temperatur und ähnlichem Durchmesser. Er hat einen kühleren, 3 Größenklassen schwächeren Nachbarstern der Spektralklasse K5V bis K7V in 3,3 Bogensekunden Entfernung, der sich zusammen mit ihm bewegt und vermutlich ein Doppelsternsystem mit ihm bildet.

Während der K2-Mission konnte Kepler stets nur für circa 3 Monate ein bestimmtes Himmelsfeld in der Ebene der Erdbahn beobachten, weil das Teleskop ansonsten quer zum Sonnenwind zu stark abgelenkt wurde und es mit seinen zwei verbliebenen Drallrädern die Ausrichtung in drei Achsen nicht stabil halten konnte. Während seiner 87-tägigen 15. Kampagne in der K2-Mission beobachtete Kepler 28 Verdunklungen von HD 139139, die aussahen, wie gewöhnliche Planetentransits von 200±80 ppm und 3 Stunden Dauer (bis auf einen 400-ppm-Transit, drei 130-ppm-Transits und einen 67-ppm-Transit), das entspräche einer Supererde mit rund 1,5 Erddurchmessern, die den Stern auf einer sehr engen Bahn umkreisen müsste. Hier handelte es sich also eher um einen kleinen Abtaucher.

Einziges Problem: Dieser hypothetische Planet hat keine definierte Umlaufzeit. Saul Rappaport und sein Team suchten nach Periodizitäten in den Transits und konnten beim besten Willen und mit mathematischen Methoden keine finden. Tatsächlich ähnelte die Verteilung der 28 Transits einer gedächtnislosen Zufallsverteilung. Eine solche findet man zum Beispiel für Ankunftszeiten von Kunden in einem Laden. Da die Kunden sich nicht in irgendeiner Weise abgesprochen oder sonst wie beeinflusst haben, als sie sich auf den Weg zum Laden machten, macht es keinen Unterschied, ob man zu einer zufälligen Zeit die Dauer bis zur Ankunft des nächsten Kunden misst oder ab dem Zeitpunkt, zu welchem der Kunde zuvor eingetroffen ist, man erhält denselben Mittelwert und dieselbe Streuung der Zeit bis zum nächsten Kunden. Auch für Asteroideneinschläge auf der Erde gilt diese sogenannte Poisson-Verteilung: aus der Zeit seit dem letzten Einschlag kann man nicht auf die vermutliche Zeit des nächsten schließen, man ist einen Tag nach einem Einschlag nicht sicherer als 10 Millionen Jahre danach.

Die Kepler-Transits von EPIC 249706694 / HD 139139. Links vor dem Ausfiltern des Effekts von Sonnenflecken, rechts danach. Fast alle Transits sind ungefähr gleich tief, aber ihre Abstände zeigen keine Periodizität.

(Bild: Rappaport et al., arXiv)

Das würde bedeuten, dass man hier quasi 28 verschiedene Planetentransits voneinander unabhängiger Planeten beobachtet hätte, was keinen Sinn ergibt, da fast alle Transits die gleiche Form haben.

Rappaport et al. suchten nach Instrumentenfehlern und fanden keinen. Sie filterten die Daten mit einem Hochpassfilter, um den Effekt langsamer Sternflecken auszufiltern, aber die Transits passierten den Filter. Sie testeten ihren Algorithmus zur Suche nach Periodizitäten, indem sie erst 10, dann 9, dann 8 etc. periodische Ereignisse unter die Daten mischten – der Algorithmus fand sie bis zu einer unteren Grenze von nur vieren. Sie überlagerten alle 28 Dips und fanden eine schöne, symmetrische U-Kurve vor, wie man sie für ein kugelförmiges Objekt im Transit erwartete. Sie zeigt keinerlei Unregelmäßigkeiten, wie man sie bei einem der für Boyajians Stern erwähnten Szenarien erwarten würde.

Das Durchschnittsprofil aller 28 Dips des Sterns HD 139139 ist U-förmig und symmetrisch, wie man es für einen Planetentransit erwarten würde.

(Bild: Rappaport et al., arXiv)

Vorsichtshalber prüften Rappaport et al. nach, ob irgendwelche katalogisierten Objekte aus dem Sonnensystem durch Keplers Blickfeld geflogen sein könnten, und fanden keine. Es wäre auch seltsam, wenn dies 28 Mal passiert wäre, während alle umliegenden Sterne nie betroffen waren.

Eine Untersuchung der Spektren von HD 139139 und seinem kleinen Begleiter ergab, dass die beiden anscheinend zusammen gehören, aber beide keine weiteren engen Begleiter haben, die ihre Position verändern könnten (vergleiche den unmöglichen Dreifachstern). Braune Zwerge als Begleiter mit Umlaufzeiten kleiner als 10 Tagen beziehungsweise stellare Begleiter mit weniger als 100 Tagen sind auszuschließen.

Eine Möglichkeit zur Erzeugung unregelmäßiger Transits sind Transitzeitvariationen, bei denen sich Planeten beim Passieren gegenseitig verlangsamen oder beschleunigen. Die Autoren konnten jedoch selbst Variationen von 10 Prozent der Umlaufzeit mit ihren Algorithmen als periodisch aufspüren und können sich nicht vorstellen, dass größere Variationen möglich sein könnten.

Des Weiteren zogen sie in Betracht, dass eine Kette von mit Staub umgebenen Asteroiden die Transits verursacht haben könnte, aber dann wäre es schwer zu erklären, warum die Transits fast alle gleich tief sind. Sie untersuchten weiterhin den Fall dass der Planet einen (spektroskopisch eigentlich ausgeschlossenen) engen Begleitstern umkreiste, der seinerseits HD13139 in einem 2- bis 5-tägigen Intervall umrundete. Bei einer stark elliptischen Bahn des Planeten würde deren Ausrichtung durch Präzession schnell rotieren. Dennoch fanden ihre Algorithmen in einem so simulierten System Periodizitäten. Auch im Falle eines Planeten, der beide Sterne des hypothetischen Binärsystems umkreiste, konnten sie keine Lösung finden, die mehr als 5 Transits reproduzierte.

Ein Vergleich mit anderen "Dippern", die unregelmäßige Helligkeitseinbrüche zeigten, ergab keinerlei Ähnlichkeit mit den gleichmäßigen Dips von HD 139139. Als letzte halbherzige Erklärung blieben nur spontan entstehende, kurzlebige Sternflecken, die nach ein paar Stunden wieder verschwinden. Warum diese allerdings das Profil eines immer gleich aussehenden Transits ergeben sollten, können die Autoren auch nicht beantworten.

In einer Notiz in den Research Notes der American Astronomical Society vom 26. Juli 2019 schlägt J. Schneider vor, dass ein Planet mit einem erdgroßen Exomond hinreichend große Transitzeiten generieren könnte, um die Zufallstransits zu erklären. Nach Schneiders Berechnungen könnte der Planet 50 Jupitermassen haben, und den Stern in etwa 2 Tagen in 0,031 AE = 4,65 Millionen Kilometern Entfernung umkreisen. Der erdgroße Mond umkreiste den Planeten in einer Million Kilometern Entfernung mit einer Umlaufzeit von 1,2 Tagen.

Skizze von J. Schneider zur Erklärung der Zufalls-Transits von HD 139139. Siehe Text.

(Bild: J. Schneider., RNAAS)

Wie oben im Bild zu sehen verpasst der Planet auf seinem Umlauf alle Transits und sein Mond etwa die Hälfte aller Transits. Die maximale Dauer zwischen den Transits läge bei 2,7 Tagen, was ungefähr zu dem System passe. Die Transitzeit würde zwischen 0 und 3 Stunden variieren, je nachdem wo auf seiner Bahn sich der Mond gerade bei der Passage des Sterns befinde.

Die 130-ppm-Ereignisse könnten bei einer streifenden Bedeckung des Planeten durch den Mond entstehen und der einzelne 400-ppm-Transit könnte von einem unabhängigen Planeten im System verursacht sein. Und zwei Paare von Dips in den Kepler-Daten, die 7,48 und 8,02 Tage betragen, könnten vorkommen, wenn der Mond zweimal hintereinander seinen Transit verpasst.

Vielleicht hat sich nun also doch jemand einen Reim auf das seltsame Verhalten des Zufalls-Transiters gemacht? Allerdings sollte ein 50-Jupitermassen-Planet (der somit schon ein Brauner Zwerg wäre) in den Spektralanalysen aufgefallen sein. J. Schneider bedankt sich am Ende der Notiz für die Diskussion mit Saul Rappaport. Eine Antwort von Rappaport habe ich nicht gefunden. Ob dies ein Eingeständnis ist, dass Schneider recht hat, darüber mag der Leser selbst spekulieren.

Quellen:

(mho)