Die unsichtbare Gefahr

Mikrosievert, Millisievert, Sievert - wie schlimm ist die Strahlendosis, der die Arbeiter in und um Fukushima bisher ausgesetzt waren? Welche Gefahr besteht für die Bevölkerung im umliegenden Gebiet? Welchen Schutz und welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es? Technology Review ordnet die Problematik ein.

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Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler
Inhaltsverzeichnis

Mikrosievert, Millisievert, Sievert – wie schlimm ist die Strahlendosis, der die Arbeiter in und um Fukushima bisher ausgesetzt waren? Welche Gefahr besteht für die Bevölkerung im umliegenden Gebiet? Welchen Schutz und welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es? Technology Review ordnet die Problematik ein.

Alle Welt blickt dieser Tage auf die "Fukushima 50", jene Techniker und Ingenieure, die unter Einsatz ihres Lebens im japanischen Atomkraftwerk Fukushima eine vollständige Kernschmelze zu verhindern suchen. Dabei waren sie offenbar zwischenzeitlich stark erhöhten Strahlendosen von 400 bis 1000 Millisievert (also 0,4 bis 1,0 Sievert) pro Stunde ausgesetzt. Das liegt so stark über dem, was üblicherweise im Verlauf eines Jahres durch die natürliche Strahlung aus der Umwelt auf sie einwirkt, dass Experten bei ihnen mit dem Auftreten der akuten Strahlenkrankheit rechnen. Dabei ist zu bedenken, dass es auch auf die Dauer des Strahlenbelastung ankommt, die Dosen addieren sich nämlich: jemand, der etwa drei Stunden lang jeweils 400 Millisievert pro Stunde ausgesetzt war, hat nach dieser Zeit eine Gesamtdosis von 1,2 Sievert abbekommen. Welcher Gesamtdosis die Fukushima-Techniker insgesamt ausgesetzt waren haben, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen.

Die Angabe dazu, wie hoch die Strahlungswerte in der näheren und größeren Entfernung um das Atomkraftwerk sind, variieren stündlich. So wurden etwa Agenturmeldungen zufolge in der Präfektur Fukushima Jod- und Cäsium-Isotope im Trinkwasser gemessen, die Behörden stuften die Werte aber noch nicht als gesundheitsschädlich ein. In Tokio wurden zuletzt in der Luft Strahlungshöchstwerte von 0,8 Mikrosievert gemessen, die selbst auf das Jahr hochgerechnet noch nicht kritisch wären.

Welche Strahlendosis ist nun aber problematisch? Gemessen wird sie in der Einheit "Sievert". Diese gibt an, welche Energiemenge pro Kilogramm Körpergewicht aufgenommen wurde und berücksichtigt – gegenüber der Einheit Gray – bereits die biologische Wirkung der vorherrschenden Strahlungsarten. Die sind unterschiedlich schädlich.

Die übliche Strahlungsmenge, der jeder im Schnitt pro Jahr ausgesetzt ist, liegt insgesamt bei etwa 2,0 bis 4,0 Millisievert. Das beinhaltet sowohl die regional leicht unterschiedliche natürliche Strahlung aus der Umwelt – aus dem Boden und als Höhenstrahlung – als einen durchschnittlichen Wert von 1,5 Millisievert durch künstliche Quellen wie Röntgenaufnahmen. Bei Computertomographien liegt die Dosis höher und kann je nach Aufnahme zwischen vier und zehn Millisievert variieren. Wer längere Strecken mit dem Flugzeug reist, ist durch die Höhenstrahlung – die je nach Flughöhe unterschiedlich ist – zum Beispiel auf der Strecke von Frankfurt nach New York einer Strahlendosis von 30 bis 75 Mikrosievert ausgesetzt.

Die Wirkung radioaktiver Strahlung

Warum und ab wann ist nun radioaktive Strahlung schädlich? Bei der Kernspaltung entstehen instabile Atomkerne (Radionuklide), die in der Folge – unter Abgabe von energiereicher radioaktiver Strahlung – in weitere instabile Produkte zerfallen. Wird die Strahlung bei einem Atomunfall freigesetzt, schädigt sie Zellen und Gewebe je nach Art und wie sie aufgenommen wurde unterschiedlich stark.

Typische Reichweiten für die verschiedenen Arten radioaktiver Strahlung.

(Bild: Klaus Stierstadt, "Atommüll - wohin damit", 2010; mit freundlicher Genehmigung des Verlags Harri Deutsch)

Alphastrahlung, positiv geladene Heliumkerne, wie sie zum Beispiel zerfallendes Plutonium oder Uran freisetzen, hat zwar nur eine kurze Reichweite – in Luft fünf Millimeter – und kann leicht schon durch ein Blatt Papier abgeschirmt werden. Werden Alphastrahler aber eingeatmet, wirken sie durch ihre hohe Energie sehr massiv im Körper. Betastrahlen, also Elektronen, und Gammastrahlen, elektromagnetische Strahlung, sind im Vergleich zu Alphastrahlen weniger energiereich. Allerdings sind sie viel schwerer abzuschirmen, weil sie eine größere Reichweite haben: Betastrahlen kommen in Luft immerhin zwei Meter weit, während sich die Intensität von Gammastrahlen in Luft nach 100 Metern halbiert hat. Beide Arten können auch die Haut durchdringen.

Die Strahlung selbst ist jedoch in der unmittelbaren Umgebung des Atomkraftwerks das vergleichsweise kleinere Problem, da ihre Intensität im Verhältnis zur Entfernung im Quadrat abnimmt. Das größere Problem sind die freigesetzten radioaktiven Partikel, die durch Wind oder im Grundwasser stark und weit verbreitet werden können – und dann eingeatmet oder durch die Nahrung aufgenommen werden. Dabei tötet die Strahlung die Zellen im Körper nicht ab, unterbindet aber ihre Teilungsfähigkeit und schädigt ihre DNA. Dadurch können aber die Stammzellen das jeweilige Gewebe nicht mehr erneuern: Gewebe mit kurzer Lebensdauer wie Haut und Schleimhaut nehmen schneller Schaden, solche mit einer längeren Lebensdauer wie Knochen- und Nervenzellen erst später.

Gefährlich sind vor allem radioaktive Isotope von Jod, Cäsium, Strontium und Plutonium, die sich in verschiedene Gewebe einlagern und dort je nach ihrer sogenannten "effektiven Halbwertszeit" über längere Zeit strahlen. Die effektive Halbwertszeit berechnet sich aus der physikalischen Halbwertszeit (die Zeitspanne, nach der die Hälfte der Isotope weiter zerfallen ist) und die biologische Halbwertszeit (die Zeitspanne, in der die Hälfte der aufgenommenen Isotope vom Körper ausgeschieden wird). Jod-131 (effektive Halbwertszeit: etwa sieben Tage) lagert sich in die Schilddrüse ein und kann dort später Krebs auslösen. Deshalb haben die Behörden in Japan Jodtabletten an die Bevölkerung verteilt: Erhält die Schilddrüse kontinuierlich unbelastetes Jod, das es für die Bildung von Hormonen regelmäßig braucht, sind die Plätze für die radioaktive Variante schon "besetzt".

Cäsium-137 (effektive Halbwertszeit: 110 Tage) sammelt sich in vielen verschiedenen Geweben an, zum Beispiel im Magen-Darm-Trakt, in den Nieren, den Muskeln und auch in der Schilddrüse. In Japan steigt derzeit die Nachfrage nach dem in Deutschland hergestellten Medikament "Radiogardase-Cs", dessen Wirkstoff – die Farbe "Preußischblau" – aufgenommenes Cäsium bindet und aus dem Körper zu schwemmen hilft. Strontium-90 (effektive Halbwertszeit: 18 Jahre) reichert sich in den Knochen an, weil der Körper es dort irrtümlicherweise statt Kalzium einbaut. Dann kommt es zu Knochentumoren, aber auch das Knochenmark wird geschädigt. Plutonium-Isotope schließlich sammeln sich hauptsächlich in Lunge und Leber.*

Eine Frage der Dosis: vom "Strahlenkater" zum Strahlentod

Erste Probleme können schon unterhalb von 200 Millisievert auftreten: Durch die Strahlung kann es zu Schäden im Erbgut kommen, die zu einem späteren Zeitpunkt möglicherweise zu Krebs führen. Im Unterschied zu diesen sogenannte "stochastischen Strahlenschäden", deren Auftreten mit steigender Dosis wahrscheinlicher wird, aber nicht sicher ist, spricht man oberhalb von 200 Millisievert von deterministischen Schäden - die zwangsläufig passieren, wenn genügend Zellen geschädigt werden.**

Bis 500 Millisievert treten äußerlich noch keine Symptome auf, allerdings sinkt die Zahl der weißen Blutkörperchen, die für die Abwehr von Infektionen zuständig sind. Zwischen 500 Millisievert und 1,0 Sievert kommt es zum sogenannten "leichten Strahlenkater", bei dem die niedrige Blutkörperchenzahl mit einem erhöhten Infektionsrisiko einhergeht und Symptome wie Kopfschmerzen, aber auch schon eine vorübergehende Unfruchtbarkeit bei Männern auftreten können.

Ab einer Strahlendosis von 1,0 Sievert ist mit der sogenannten "akuten Strahlenkrankheit" zu rechnen, die manchmal noch in drei Stufen unterteilt wird. Generell gilt: Je höher die Dosis und je schwerer das Strahlensyndrom, desto schneller treten die Auswirkungen auf und desto kürzer ist die symptomfreie Latenzzeit zwischen den ersten unspezifischen Symptomen – wie Übelkeit, Erbrechen und Kopfschmerzen – und deutlichen Symptomen wie Haarausfall oder Schäden im Knochenmark, den Schleimhäuten des Magen-Darm-Traktes und des zentralen Nervensystems. Zudem steigt statistisch gesehen der Anteil der Betroffenen, die innerhalb von 30 Tagen nach der Verstrahlung an den Folgeschäden sterben.

Ab Werten zwischen 1,0 bis 2,0 Sievert sprechen Experten von einer leichten Strahlenkrankheit. Erste Symptome wie Übelkeit und Erbrechen können bereits innerhalb weniger Stunden auftreten. Nach einer Übergangsphase von etwa zwei Wochen, in der die Symptome abklingen, folgen weitere Probleme wie Appetitlosigkeit, Ermüdung und fast immer werden die betroffenen Männer vorübergehend unfruchtbar. Laut Statistik stirbt jedes zehnte Opfer innerhalb des ersten Monats.

Dosen zwischen 2,0 bis 4,0 Sievert führen zu der sogenannten schweren Strahlenkrankheit, deren unspezifischen Symptome – ähnlich wie bei der leichten Strahlenkrankheit – bereits nach einer Stunde auftreten. Nach der Erholungsphase kommt es dann häufig zu schwereren Gesundheitsschäden wie Haarausfall, Durchfall, einem – durch die rapide gesunkene Zahl der weißen Blutkörperchen hervorgerufenen – stark erhöhten Infektionsrisiko, Blutungen der Mundschleimhaut, unter der Haut sowie in den Nieren. Frauen können dauerhaft steril werden. Ein Drittel bis die Hälfte der Betroffenen stirbt noch im ersten Monat.

Ab 4,0 Sievert tritt die akute Strahlenkrankheit sehr schnell auf, die ersten Symptome machen sich schon innerhalb von einer halben Stunde bemerkbar. Später kommt es zu ähnlichen Auswirkungen wie bei der schweren Strahlenkrankheit, allerdings treten sie nun viel häufiger auf. Fast zwei Drittel der Betroffenen erliegen den schweren Blutungen und Infektionen innerhalb von 30 Tagen. Die Angestellten im Atomkraftwerk von Tschernobyl waren offenbar einer Strahlendosis von etwa 5,5 Sievert ausgesetzt. Ab dieses Dosisstufe kann unter Umständen nur noch eine Knochenmarktransplantation helfen.

Oberhalb von 6,0 Sievert wird es noch dramatischer. Die Wirkung der Verstrahlung tritt fast umgehend, innerhalb von Minuten ein. Die darauf folgende scheinbare Erholung wird als "Walking Ghost"-Phase bezeichnet, denn in Wirklichkeit sind diese Menschen fast unweigerlich einem schnellen Tod innerhalb von maximal zwei Wochen geweiht. Ihr Knochenmark ist so stark zerstört, dass nur noch eine Transplantation sie retten kann. Auch die Magen-Darm-Schleimhaut ist schwerstens geschädigt.

Ab 10 Sievert nimmt die Schwere der Symptome weiter zu und der Tod tritt immer früher ein. Der Magen-Darm-Trakt wird immer schwerer geschädigt, neben Darmblutungen kämpfen die Opfer mit einem hohen Wasser- und Elektrolytverlust, bis sie schließlich innerhalb von drei bis sieben Tagen an Kreislaufversagen sterben. Ab dem extremen Wert von 50 Sievert tritt der Tod nach schweren Schäden am zentralen Nervensystem innerhalb von wenigen Stunden ein, ab 80 Sievert praktisch sofort.

* Cäsium reichert sich nicht nur in der Schilddrüse an, wie wir in der ersten Fassung geschrieben haben. Neben dieser Korrektur haben wir auch die verschiedenen Halbwertszeiten der radioaktiven Isotope ergänzt, die sich im Körper anreichern.

** In der urprünglichen Fassung stand irrtümlich, dass "erste Gesundheitsschäden schon ab 200 Millisievert" statt "unterhalb von 200 Millisievert" auftreten können. Ergänzend wurde die Unterscheidung zwischen diesen "stochastischen" Schäden (können auftreten) und den ab 200 Millisievert auftretenden deterministischen Schäden (werden auftreten) eingefügt.

Eine aktualisierte Chronologie der Ereignisse im AKW Fukushima I gibt es hier. (vsz)