Digital unsterblich

Nur anhand eines Fotos und einer kurzen Stimmprobe erschafft ein Start-up Avatar-Abbilder von beliebigen Personen. Bald soll das auch per App möglich sein. Aber was geschieht, wenn ein Nutzer des Dienstes stirbt?

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Von
  • Rachel Metz
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Kennengelernt habe ich Nikhil Jain in Fleisch und Blut, jetzt sehe ich ihn auf einem Laptop-Bildschirm – genauer gesagt ein kleines animiertes Abbild von ihm vom Oberkörper aufwärts. Dabei spricht er mit demselben Ton und demselben leichten Akzent wie vorher. Allerdings ist diese Version von Jain kahl (weil seine Haare schlecht überzeugend zu animieren sind), und seine Stimme klingt etwas roboterhaft.

Seit drei Jahren arbeitet Jain für Oben, ein von ihm mitgegründetes und geleitetes Start-up. Es entwickelt Technologie, bei der ein einziges Bild und eine Audio-Aufnahme ausreichen, um die Erschaffung von so etwas wie digitalen Seelen zu automatisieren: Avatare, die sehr ähnlich aussehen und klingen wie ihr menschliches Vorbild und die man so ziemlich alles sagen oder singen lassen kann.

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Natürlich wird der Avatar nicht wirklich man selbst sein – und auch nicht Beyoncé, Michael Jackson und wen auch sonst man sich dafür aussucht. Aber er könnte eine überzeugende, potenziell amüsante Annäherung sein, die auf verschiedene Weise von Nutzen ist. Vielleicht möchte man, wie Jain, ein virtuelles Abbild von sich haben, dass den Kindern Geschichten vorliest, wenn man nicht da ist. Vielleicht ist man Besitzer des Nachlasses einer toten Berühmtheit und will sie mit Auftritten ihres Avatars sozusagen am Leben halten. Die Möglichkeiten sind unendlich – und vielleicht auch unendlich umheimlich.

Oben, angesiedelt in Pasadena im US-Bundesstaat Kalifornien, hat bislang 9 Millionen Dollar Kapital aufgenommen. Ende dieses Jahres will das Unternehmen eine App veröffentlichen, mit der Nutzer ihren persönlichen Avatar erstellen und Videos davon verschicken können.

Außerdem arbeitet das Start-up mit bislang namentlich nicht genannten Bands in Asien zusammen, um mobile Avatare zu schaffen, die Duetts mit ihren Fans singen können. Und im April kündigte es zusammen mit der extrem beliebten Sozialnetz-App WeChat eine Virtual-Reality-Version seiner Avatar-Technologie an, die mit dem Headset HTC Vive funktionieren soll.

Einstweilen dauert es noch relativ lange, einen Avatar zu produzieren, wie Jain ihn mir vorführt. Er zeigt zudem nur die obere Hälfte des Körpers. Zwar reichen dafür ein Foto und 2 bis 20 Minuten Vorlesen (je länger, desto besser) aus einer Vorlage mit vielen Phonemen, doch um dann einen guten Avatar zu erschaffen, braucht das Deep-Learning-System von Oben ungefähr acht Stunden. In dieser Zeit wird die Audio-Aufnahme analysiert und ein stimmlicher Fingerabdruck für die jeweilige Person erstellt, der Merkmale wie Akzent und Klangfarbe wiedergibt, sowie das visuelle 3D-Modell (Gesichtsausdrücke werden anhand des Fotos und des Stimm-Musters berechnet, wie Jain erklärt). Gesprochene Worte von Jains Avatar hörten sich gut an, doch beim Singen klang er stark nach Computer-Musik.

Die Avatare in der angekündigten App sollen laut Jain weniger perfekt sein, aber dafür deutlich schneller entstehen. Zudem arbeitet Oben daran, Worte und Gesichtsausdrücke so aufeinander abzustimmen, dass die Avatare natürlich wirkend in jeder beliebigen Sprache sprechen können. Einstweilen sind nur Englisch und Chinesisch möglich.

Wenn digitale Kopien wie diese überzeugend werden, werden sie die Frage auf, was damit langfristig geschehen soll. Soll es einen Avatar weiterhin geben, wenn das menschliche Original gestorben ist? Ist es verstörend, wenn Hinterbliebene so etwas wie von einem Toten hinterlassene digitale Krümel nutzen, um ihn digital neu entstehen zu lassen? In einem Demo-Video hat Jain diese Möglichkeit vor ein paar Jahren vorgeführt.

Jain weiß selbst nicht genau, wie die Antwort auf diese Fragen lautet. Sicher ist für ihn nur: Wie andere Unternehmen, die mit Daten von Nutzern zu tun haben, muss sich auch Oben um das Thema Tod kümmern. Neben großen Fragen entstehen hier auch große Geschäftschancen. Zum Teil beruht auch das Geschäftsmodell von Oben auf dieser Tatsache: Wie Jain sagt, hat er sich an die Nachlassverwalter von vielen Prominenten gewandt, von denen einige schon lange tot und einige erst vor kurzem verstorben sind.

(sma)