Elektronische Patientenakte 3.0: Psychologin sieht hohes Stigmatisierungsrisiko
2025 soll die elektronische Patientenakte 3.0 durchstarten, doch laut der Diplom-Psychologin Susanne Berwanger birgt sie Risiken. DarĂĽber haben wir gesprochen.
Der Berufsverband Deutscher der Psychologinnen und Psychologen (BDP e.V.) setzt sich seit Jahren für einen besseren Gesundheitsdatenschutz ein. Das "Gesetz zum Schutz elektronischer Patientendaten in der Telematikinfrastruktur", kurz Patientendatenschutzgesetz (PDSG), hat der Verband scharf kritisiert und mit einer ausführlichen Begründung abgelehnt. Das PDSG sollte die Gesundheitsdaten schützen, doch der BDP sieht Datenschutzmängel unter anderem, weil Daten möglichst umfassend und zentral gespeichert werden sollen und so das von der Datenschutz-Grundverordnung verlangte Prinzip der Datensparsamkeit verletzt wird.
An den aktuellen Konzepten der "ePA für alle" bemängelt der Verband unter anderem, dass Versicherte nicht ausreichend über die Vorteile und Risiken der elektronischen Patientenakte sowie Möglichkeiten zur Risikominimierung informiert werden. Ebenfalls als kritisch sieht der BDP neben der fehlenden Feingranularität beim Berechtigungsmanagement auch neue Einflussmöglichkeiten von Krankenkassen. Um an den Missständen etwas zu ändern, fordert der Verband seit Jahren, dass auch psychologisch-psychotherapeutische Expertise bei den Vorhaben der Gematik, die für die Digitalisierung des Gesundheitswesens zuständig ist, mit einzubeziehen.
Wir haben mit der BDP-Vizepräsidentin und Vorsitzenden der Fachsektion für psychologische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (VPP im BDP), Susanne Berwanger über die kommende elektronische Patientenakte für alle (ePA 3.0) gesprochen.
heise online: Der Berufsverband der Psychologinnen und Psychologen hat kürzlich Bedenken hinsichtlich der Einführung der elektronischen Patientenakte geäußert, insbesondere in Bezug auf den Datenschutz. Können Sie uns die Hauptsorgen des Verbands beschreiben?
Susanne Berwanger: Unsere größte Sorge ist, dass hochsensible Daten, speziell solche aus dem psychotherapeutischen und psychiatrischen Bereich, nicht ausreichend geschützt sind. Diese Daten können zum Beispiel standardmäßig von fachfremden Behandelnden und deren beruflichen Gehilfen eingesehen werden, was ein erhebliches Stigmatisierungsrisiko birgt. Wir haben uns für eine Opt-in-Lösung eingesetzt, bei der Patient:innen aktiv zustimmen müssen, bevor solche Daten gespeichert werden, aber leider wurde das nicht umgesetzt.
Der Datenschutz, so wie er jetzt geplant ist, ist nicht ausreichend. Wir haben uns als Berufsverband dafür eingesetzt, dass zumindest für die besonders sensiblen Daten zu psychischen Erkrankungen ein Opt-in erforderlich ist – also dass Patient:innen aktiv zustimmen müssen. Mal angenommen, Patient:innen gehen ins Krankenhaus aufgrund einer schweren Depression. Diese Patient:innen schaffen es vielleicht gar nicht, einer Datenspeicherung zu widersprechen, da sie die schriftlichen Hinweise in den Aufnahmeunterlagen aufgrund Konzentrationsmangel nicht vollständig lesen können. Bisher war es so, dass der Entlassbrief an die behandelnde Psychiaterin oder den Hausarzt geschickt worden ist.
Jetzt sind Behandelnde verpflichtet, den Entlassbrief aus der ePA der Patient:in hochzuladen, wenn kein Widerspruch vorliegt und es für zum Beispiel die Anamneseerhebung relevant erscheint. Geht ein Patient also nach einer psychiatrischen Klinikbehandlung zur Orthopäd:in oder zu einer anderen Ärztin oder einem Arzt, dann können diese die Informationen sehen. Orthopäd:innen oder andere fachfremde Behandelnde und berufliche Gehilfen können den Brief dann lesen, herunterladen und abspeichern. Dazu sind sie auch angehalten, denn vielleicht hat der Patient eine somatoforme Schmerzstörung oder gar Halluzinationen, die für die orthopädischen Behandlungen relevant sind.
Ein weiterer Punkt, der bisher kaum Beachtung gefunden hat, ist, dass gerade in einem psychiatrischen oder psychosomatischen Entlassbrief hochsensible Daten stehen, die unter Umständen nicht nur die Versicherten selbst betreffen. Das heißt, in den Anamnese-Daten stehen etwa Informationen zum Schulverlauf oder zu Familienkonflikten. Wie haben sich die Eltern verhalten, welche Konstellationen gibt es unter den Geschwistern, welchen Stress gibt es, wie verläuft es in der Ehe, welche Probleme haben die Kinder? Dabei handelt es sich letztlich um hochsensible Daten über Dritte.
Inwiefern spielt das eine Rolle fĂĽr nicht approbierte Psychologen?
Viele Psycholog:innen arbeiten in Erziehungsberatungsstellen mit psychisch belasteten Kindern. Sie sind auch in Drogenberatungsstellen für Menschen mit Suchterkrankungen tätig. Diese Einrichtungen sind zwar nicht offiziell Teil des Telematiksystems. Dennoch betreuen sie Menschen mit psychischen Erkrankungen.
Psychologinnen und Psychologen haben also häufig mit psychisch kranken Menschen zu tun. Sie haben zwar keine gesetzliche Aufklärungspflicht über Widerspruchsrechte. Trotzdem ist es sinnvoll, dass sie gut informiert sind und ihre Patient:innen aufklären können. Künftig können auch Betriebsärzte mit Einwilligung der Versicherten auf die elektronische Patientenakte zugreifen.
Das geht aber alles nur nach der Einwilligung, oder nicht?
Ja, bei Einblicksrechten bezogen auf Betriebsärzt:innen. Überall sonst müssen Patient:innen nicht gesondert einwilligen (Opt-in) – sie haben nur ein Widerspruchsrecht (Out-out). Aber die Frage ist auch: Wie funktioniert der Widerspruch? Für uns stellt es ein großes Problem dar, dass Hinweise über Widerspruchsrechte nicht explizit auch im persönlichen Gespräch mit den Behandelnden gegeben werden müssen. Hinzu kommt noch, dass die aktuelle Architektur der elektronischen Patientenakte lediglich erlaubt, dass Daten entweder für alle Mitbehandelnden und Apotheken einsehbar sind oder (nur) für alle verschattet beziehungsweise versteckt werden können.
Patient:innen können Dateien nicht feingranular einer bestimmten Behandelnden, etwa der Psychiaterin, freigeben. Wenn jetzt Patient:innen aus der Psychiatrie entlassen sind und nicht möchten, dass alle Mitbehandelnden oder Apotheken den Arztbrief lesen können, sondern nur die Psychiaterin und der Hausarzt, dann funktioniert das nicht. Die meisten Einstellungen der ePA betreffend Datensicherheit gehen nur mit der App der Krankenkassen. Die Anmeldung dort ist für viele Versicherte sicherlich sehr umständlich.
Welche möglichen Nebenwirkungen hätte die ePA Ihrer Ansicht nach zum Start?
Sensible Daten über psychische Erkrankungen könnten in falsche Hände geraten. Dies führt zu möglicher Stigmatisierung und im schlimmsten Fall sogar zu falscher Behandlung. Die aktuelle ePA zeigt auch fachfremden Ärzt:innen oder Apotheken und deren Mitarbeitern automatisiert potenziell stigmatisierende Informationen aus psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlungen – wenn kein Widerspruch vorlag. Diese Nebenwirkungen sind aus unserer Sicht katastrophal. Es ist genau das, was wir nicht wollten. Sie können das Vertrauen der Patient:innen in das Gesundheitssystem beschädigen.
Könnte sich dadurch auch die Behandlung verschlechtern?
Ja, auf jeden Fall. Es wird sicherlich Behandelnde geben, die das Datenschutzrisiko ernst nehmen und in die zukĂĽnftigen Entlassbriefe kaum tiefergehende Informationen mehr hineinschreiben. In den bisherigen Entlassbriefen waren etwa Informationen zur Kindheit, Traumatisierungen und so weiter, die fĂĽr uns psychotherapeutisch Behandelnde sehr wertvoll sind. Diese Informationen stehen dann nicht mehr in Entlassbriefen und fehlen gegebenenfalls bei weiteren Behandlungen.
Was mĂĽsste Ihrer Meinung nach getan werden, um die Menschen besser zu informieren?
Eine umfassende Aufklärung der Versicherten über die Risiken der ePA ist essenziell. Die Krankenkassen sollten klare und verständliche Informationen bereitstellen – auch über potenzielle Datenschutzrisiken. Flexible Verschattungsmöglichkeiten und differenzierte Freigabeberechtigungen von einzelnen Dokumenten sollten umsetzbar sein. Bestimmte sensible Dokumente sollten auf Wunsch von Patient:innen bereits verschattet in der ePA gespeichert werden können. Zusätzlich sollten behandelnde Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen gut in der Lage sein, ihre Patient:innen ausführlich und auch kritisch zu informieren. Da ausführlichere Beratungszeiten aktuell nicht vorgesehen sind und von der Behandlungszeit abgehen, sollten gesonderte hierzu Abrechnungsziffern eingeplant werden.
Plant der Berufsverband der Psychologinnen weitere Schritte, um auf diese Problematik aufmerksam zu machen?
Wir werden weiterhin den Dialog mit dem Bundesgesundheitsministerium und anderen relevanten Stellen suchen, um auf die Notwendigkeit von Änderungen hinzuweisen. Zudem bereiten wir Informationsmaterialien für die Öffentlichkeit vor, um das Bewusstsein für dieses wichtige Thema zu schärfen. Gute Informationen gibt es bereits auf der Website der Deutschen Aidshilfe und auch auf unserer Website. Wir hoffen, dass unsere Stimme gehört wird und Änderungen vorgenommen werden, bevor die ePA flächendeckend eingeführt wird.
Was wĂĽrden Sie der Kritik entgegnen, dass Ă„rzte und Psychotherapeuten nur dagegen sind, weil sie keine Daten einstellen wollen?
Psychotherapeut:innen haben sehr gute Gründe, keine Daten über Ihre Behandelten einstellen zu wollen. Denn sie wissen haargenau, wie hochsensibel diese sehr persönlichen Daten aus psychotherapeutischen Behandlungen sind!
(mack)