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Elektronische Patientenakte: Was Ärzte wirklich wollen

Marie-Claire Koch
Arzt erklärt etwas in einer Praxis. Auf dem Tisch liegt ein Stethoskop.

(Bild: Indypendenz/Shutterstock.com)

Bald soll mit Patientendaten unkompliziert geforscht werden können. Was Ärzte von den aktuellen Plänen zur Patientenakte und dem Gesundheitsdatenraum halten.

Bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens soll bald eine "Aufholjagd" beginnen, wie Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach erneut bei der Vorstellung des mit dem Digitalgesetz und dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz verzahnte Medizindatenforschungsgesetzes [1] ankündigte. Zentral dabei ist eine Forschungsdateninfrastruktur, die auch Pharmaunternehmen den unkomplizierten Zugang zu Daten dank weniger Bürokratie und unkomplizierten Musterverträgen ermöglichen soll. Wir haben mit den Allgemeinmedizinern Dr. Lothar Rütz und Dr. Stefan Streit gesprochen, was sie sich von der Digitalisierung erhoffen und darüber, wie es nicht sein sollte.

heise online: Aktuell sind viele Ärzte mit der Digitalisierung unzufrieden. Woran liegt das?

Rütz: Vor allem an der Telematikinfrastruktur samt dysfunktionalen Anwendungen. Aktuell werden die Praxen mit zusätzlicher Bürokratie belastet, anstatt entlastet. Es ist wichtig, die Ärzte, die inzwischen skeptisch bis ablehnend gegenüber der Digitalisierung eingestellt sind, im positiven Sinne mitzunehmen. Bisher wird den Ärzten eine von Ökonomen und Industrie getriggerte und von der Politik ausgeführte Struktur übergestülpt.

Wo liegen für Sie als Ärzte die Vorteile einer elektronischen Patientenakte, die mit dem Digitalgesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung im Gesundheitswesen kommen soll?

Anhand der Daten, die über die Patienten strukturiert vorliegen, können wir uns sehr schnell über die Vorgeschichte informieren. Die Daten sind dabei zuverlässiger als die Angaben des Patienten.

Was ist, wenn die Daten nicht strukturiert vorliegen?

Dann sind die Daten unbrauchbar und der Aufwand ist umsonst. Es muss schon so sein, dass die Akte durchsuchbar ist. Mehr als 80 Prozent der Ärzte arbeiten mit elektronischer Datenverarbeitung in der primären Arztakte in ihrer Praxis. Das funktioniert hervorragend. Die Vorbefunde wissen wir Ärzte natürlich nicht alle auswendig. Wir haben in der Praxis-EDV eine ganz normale Suchfunktion, wie das andere Programme auch haben. Dafür ist auch eine Verschlagwortung notwendig. Wir sind darauf angewiesen, dass die Daten zu 100 Prozent korrekt sind. Wir dürfen uns eigentlich nicht erlauben, dass eine Allergie nicht das richtige Schlagwort erhält. Das muss eine zukünftige elektronische Patientenakte können. Mit der aktuell geplanten Version können wir Ärzte nicht arbeiten.

Besteht dann nicht auch die Gefahr der Voreingenommenheit, wenn die Kollegen versehentlich etwas falsch diagnostiziert haben?

Es geht nicht um falsch diagnostiziert, sondern darum, dass etwas falsch eingegeben wurde. Das ist ein wichtiger Unterschied. Heutzutage ist das so: Wenn ein Arzt etwas falsch in die Akte eingibt, dann hat er einen Fehler in seinem Datensatz. Der Patient geht zum nächsten Arzt, der fragt nach und dann ist das korrigiert. Deswegen fragen wir Ärzte immer wieder nach. Es ist wichtig, dass in der Patientenakte möglichst ausschließlich gesicherte Informationen eingetragen wurden.

Also wäre Ihnen wichtig, dass Ärzte Zugriff auf die Akten der Versicherten haben und die Versicherten dort selbst nichts eintragen können?

Ja, sonst brauchen wir die Akte nicht. Außerdem muss ich als Arzt auf alle Befunde zugreifen können.

Besteht dann nicht die Gefahr, dass auch Ärzte auf Daten zugreifen, die vielleicht nichts Gutes im Sinn haben?

Das funktioniert in anderen Ländern auch. Dort ist das strafbewehrt, weil der Arzt dann die Schweigepflicht verletzt. Ich darf als Arzt jetzt auch nicht beliebig irgendwelche Daten anfordern, sondern nur die des Patienten, der bei mir in Behandlung ist. Da sollten dann auch die Zugriffe protokolliert werden. In einer PA müssen validierte Befunde strukturiert vorliegen, damit ich die Informationen auch schnell finde.

Streit: Wenn man sich die geplante elektronische Patientenakte ansieht, hat man den Eindruck, dass es nicht um die Unterstützung der Versorgung geht. Die Idee der Datenökonomie ist ein wesentlicher Treiber der Entwicklung der ePA.

Was sind die Hoffnungen beziehungsweise der Sinn dahinter?

Mit den Daten soll Geld verdient werden. Sonst sähe die Infrastruktur drumherum anders aus. Das mit dem Geld ist aber gleichzeitig auch das größte Problem. Einer der größten Risikofaktoren für Krankheit ist Armut. In Deutschland sterben Menschen zehn Jahre eher, wenn sie arm sind. In den letzten zehn Jahren, bevor sie sterben, sind sie auch noch eher krank als reiche Leute. Wir haben ein Teilhabeproblem.

Worin besteht das Problem genau?

Wenn mit der geplanten Datenökonomie die Daten aus den Arztakten in den Europäischen Gesundheitsdatenraum [2] kommen und auch über die anderen geplanten Datenräume immer mehr Daten geteilt werden müssen, dann sind die Menschen gezwungen, einen großen Teil ihrer Persönlichkeit preiszugeben. Die Menschen können mit diesen Daten relativ unreguliert diskriminiert werden. Geschäfte machen kann man nur, indem man Patienten oder Kunden in zwei Gruppen teilt. Der eine erhält einen Kredit, der andere nicht und so weiter. Wir haben derzeit überhaupt kein relevantes Schutzgut mehr. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Daten in falsche Hände gelangen. Datenschutz ist bereits heute ein fiktiver Mechanismus und wir brauchen einen Ersatz dafür.

Wie meinen Sie das?

Das Arzt-Urheberrecht könnte der Einstieg in eine Rolle der natürlichen Person in die Datenökonomie sein. Mit einem Arzt-Urheberrecht können die Ärzte mitentscheiden, was mit diesen Daten passiert. Das ist die Grundidee. Indem die Ärzte die Patientenbehandlung dokumentieren, erzeugen sie gleichzeitig ein Patientendateneigentum. Die so entstehenden Daten berichten über den Krankheitsverlauf der Patienten, aber auch über die Entscheidungswege der Ärzte. Die primäre Arztakte in den Praxen entspricht da einer Mietwohnung. Der Arzt ist der Eigentümer, sie wird aber vom Patient bewohnt. Beide haben Rechte daran.

Das Arzt-Urheberrecht ist der Einstieg, um zu klären, wie Patienten und Ärzte eine Rolle in der Datenökonomie erhalten, die sie derzeit nicht haben. Sie können beispielsweise ein berechtigtes Interesse anmelden. Primär geht es dabei um das berechtigtes Interesse, zu sagen, was mit den Daten passiert, um Geld geht es dabei nur sekundär.

Was halten Sie davon, dass die elektronische Patientenakte weiter bei den Krankenkassen liegen soll?

Es ist die Frage, ob die Krankenkassen wirklich die richtigen Sachverwalter [3] sind. Diese sollten neutral sein und möglichst wenig Interessenkonflikte haben. Selbst wenn die wirklich alles redlich machen wollen, liegt das einfach in der Natur der Sache, dass dort ein Interessenkonflikt vorprogrammiert ist. Deswegen ist es besser, man trennt das und legt das in die Hände von jemandem, der keinen Interessenkonflikt hat.

Wie ist Ihre generelle Einstellung dazu, dass Daten dann in den Europäischen Gesundheitsdatenraum laufen?

Rütz: Das kommt immer auf die Randbedingungen an. Es muss zunächst definiert werden, wie das Gemeinwohl denn überhaupt aussehen sollte. Gemeinwohl heißt noch lange nicht, dass dann auch Erkenntnisgewinne bei den Patienten landen.

Heise online: Was halten Sie von den Plänen von Gesundheitsminister Karl Lauterbach, das Arzt-Patienten-Gespräch direkt über ein Spracherkennungssystem mittels KI aufzuzeichnen?

Das heißt: Es bleibt nichts mehr unter uns. Die Patienten werden sich hüten, dem Arzt etwas Vertrauliches zu sagen, weil sie jederzeit damit rechnen müssen, dass die Daten ungesehen in der ePA landen. Ich bin zwar davon überzeugt, dass ein einfacher Datenzugriff durch Ärzte für die Behandlung von chronischen Patienten deutliche Vorteile hat. Andere Länder sind uns da deutlich voraus. Trotzdem bin ich der Auffassung, dass jeder wissen muss, worauf er sich einlässt und dann auch aktiv zustimmen muss. Der Ärztetag hatte auch zweimal für eine Opt-out-Lösung gestimmt. Die Ärztekammer Nordrhein hat sich jetzt zum ersten Mal von den Beschlüssen distanziert, da diese unter völlig falschen Voraussetzungen erfolgten. Wir haben da die Katze im Sack gekauft und jetzt ist der Sack offen und es ist keine Katze herausgekommen, sondern irgendein anderes Ungeheuer.

Streit: Es muss von vornherein klar sein, dass diese Daten primär vertraulich beachtet werden. Außerdem müssen klare Grenzen gezogen werden, wer mit welchen Fragestellungen mit den Daten forschen darf. Wir brauchen im Grunde genommen ein Diskriminierungsverbot für Krankheit und Krankheitsdaten. Mit dem Sammeln dieser Daten besteht die Gefahr, Diskriminierung Tür und Tor zu öffnen. Es gibt zwar Diskriminierungsverbote aufgrund des Geschlechts, der politischen Weltanschauung und auch das veraltete Wort "Rasse" taucht dort auf, und auch Behinderung, aber von Krankheit ist im Grundgesetz nicht die Rede.

Eignen sich die Daten in der ePA für die Forschung?

Streit: Wenn Sie an wissenschaftliche Forschung denken, würde ich sagen: Nein. In Zukunft soll Künstliche Intelligenz (KI) mit den Daten forschen. KI ist nicht darauf angewiesen, dass die Daten vollständig und strukturiert sind. Sie sucht nach Korrelation und es spielt keine Rolle, mit welcher Fragestellung. Das ist aber dann nicht Evidenz-basiert. Gesellschaftlich vollzieht sich gerade ein Paradigmenwechsel. Wir sagen, wir machen KI-Erkenntnis. Das funktioniert auch, aber ich bin gespannt, wie Wissenschaftler damit umgehen, wenn es zwei Wahrheiten gibt, eine über Erkenntnis aus Wissenschaft und eine aus KI.

Was ist mit einem explorativem Ansatz?

Streit: Auch da ist KI keine Wissenschaft. Für Wissenschaft müssen Sie vorher festlegen, welche Theorie sie verfolgen. Dann formulieren Sie eine Hypothese, dann testen Sie diese Hypothese und dann gibt es ein Ergebnis.

(mack [4])


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https://www.heise.de/-9566427

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/news/Pharma-Standort-Deutschland-Lauterbach-kuendigt-Aufholjagd-mit-Medizinforschungsgesetz-an-9546585.html
[2] https://www.heise.de/news/EHDS-Gesundheitsministeirum-verspricht-Widerspruchsrecht-bei-E-Patientenakte-9547308.html
[3] https://www.heise.de/news/Bundesregierung-Unterlassene-Hilfeleistung-wenn-Krankenkassen-nicht-warnen-9544470.html
[4] mailto:mack@heise.de