Essen aus dem Baukasten

Seite 2: Bedenken bei Soylent-Getränk

Inhaltsverzeichnis

Man darf also gespannt sein, was künftig auf dem Teller landet. Selbst extreme Ideen finden Anhänger. Einkaufen, kochen, abwaschen und überhaupt sich mit Nahrungsaufnahme beschäftigen zu müssen – das alles fresse doch nur Zeit, findet Rob Rhinehart aus Los Angeles. Der Softwareentwickler hat daher 2013 in einem Selbstversuch die Kunstnahrung Soylent entwickelt: ein Pulver, das mit Wasser zu einem Trunk angerührt wird. Der Drink soll auf das Mikrogramm genau alle Nährstoffe enthalten, die der menschliche Körper braucht. Der Soylent-Erfinder hat damit aber mehr im Sinn als Bequemlichkeit. "Unser Ziel ist, die Entwicklung einer Welt zu unterstützen, in der eine vollwertige Ernährung des Menschen keine Herausforderung mehr ist, sondern Realität", schreibt er auf der Firmen-Homepage. Aktuell wird seine Firma Rosa Labs mit mehr als 100 Millionen Dollar bewertet.

Das Problem ist jedoch: Die angebliche Mangelernährung existiert nicht, zumindest nicht hierzulande. "In Deutschland haben wir im Großen und Ganzen keine Probleme, was den Versorgungsstatus mit einzelnen Nährstoffen angeht", sagt Bernhard Watzl, Leiter des Instituts für Physiologie und Biochemie der Ernährung am Max Rubner-Institut (MRI) in Karlsruhe. Das bestätigt auch die letzte nationale Verzehrstudie II, in welcher MRI-Wissenschaftler knapp 20000 Teilnehmer zwischen 14 und 80 zu ihrem Ernährungsverhalten befragten. Zwar aßen die Deutschen zwischen 2005 und 2007 "zu wenig Lebensmittel pflanzlichen und zu viel tierischen Ursprungs", die durchschnittliche Menge der konsumierten Vitamine und Mineralstoffe lag hingegen im Bereich der hierzulande empfohlenen Referenzwerte.

Der Soylent-Drink dürfte allerdings nicht nur sinnlos sein, sondern eventuell gar gesundheitsschädlich: Er enthalte nur die heute bekannten essenziellen Nährstoffe: "Wir wissen aber, dass viele sekundäre Pflanzenstoffe ebenfalls Prozesse im Körper beeinflussen", so Watzl. Die könnten fehlen. Und ob man sich damit 50 Jahre ernähren könne oder noch länger, habe noch niemand gezeigt. "Derartige Daten wird es auch nie geben, denn solche artifiziellen Ansätze werden immer nur für sehr begrenzte Zeiträume umgesetzt", so der Wissenschaftler. Dass Bedenken durchaus angebracht sind, zeigt die aktuelle Rücknahme des erst vor einigen Monaten von Rosa Labs auf den Markt gebrachten Soylent-Riegels. Mehr als 30 Kunden berichten von starken Magenkrämpfen und nicht aufhören wollenden Übelkeitsattacken. Die Ursache werde untersucht, so der Hersteller.

Auch wenn andere Unternehmen längst nicht so weit gehen wie Soylent, ändert das nichts am Fazit der Experten. "Bis auf ganz wenige Ausnahmen ergibt es aus ernährungsphysiologischer Sicht keinen Sinn, Lebensmittel gezielt anzureichern", betont Watzl. Functional Food sei in den allermeisten Fällen vollkommen überflüssig. Zu den wenigen Ausnahmen gehört allerdings Jod. Es kommt in unserer Region im Boden nur in sehr geringen Konzentrationen vor und ist damit dementsprechend wenig in heimischen Lebensmitteln enthalten. "Daher verwenden wir heute hauptsächlich jodiertes Salz", sagt Watzl. Viele Menschen unserer Breitengrade sind außerdem mit Vitamin D unterversorgt. Es entsteht unter Sonneneinstrahlung in der Haut.

Um die Bevölkerung auch im Winter ausreichend damit zu versorgen, werde über eine bundesweite Sublementierungsstrategie nachgedacht, so Watzl. Dabei dürfe es aber nicht zu einer Überdosierung kommen. Sonst drohten Nierensteine oder eine Nierenverkalkung. Insgesamt rät Watzl beim Thema Functional Food zu mehr Gelassenheit: "Will man möglichst vielen Krankheiten vorbeugen, dann landet man in der Summe wieder bei einer Mischkost, die wir schon seit Jahrzehnten empfehlen: möglichst viel Gemüse und Obst, möglichst wenig Fleisch und verarbeitete Produkte." Anders stellt sich die Lage jedoch dar, wenn Essen aus der Retorte die Massentierhaltung reduziert oder zu weniger Fleischkonsum führt – am besten beides gleichzeitig. Dann kann im Labor designtes Essen zu einer umweltfreundliche- ren und gesünderen Ernährung führen.

Das Start-up Muufri mit Sitz in San Francisco macht es vor: Es lässt Milcheiweiße von genmodifizierten Hefebakterien produzieren, mischt sie mit Wasser und stellt so synthetische Milchprodukte her. Wann Muufri an den Markt geht, ist zwar noch unklar, offenbar aber funktioniert der Produktionsprozess bereits. Firmen wie Beyond Meat oder Impossible Foods wollen Burger aus Erbsenprotein herstellen. Und wem der völlige Verzicht auf Fleisch zu weit geht, der kann sich künftig vielleicht an Memphis Meats wenden. Als weitere Silicon-Valley-Gründung will es Fleisch aus tierischen Zellen züchten – im Labor.

Wie groß der Einfluss von mehr pflanzlicher Kost auf die Umwelt und unsere Gesundheit ist, hat der Physiker und Umweltökonom Marco Springmann in einer aktuellen Studie belegt. Der Wissenschaftler vom Projekt Future of Food an der Universität Oxford untersuchte dazu vier verschiedene Szenarien.

- Erstens: Alles bleibt, wie es ist.

- Zweitens: Wir halten uns an die Ernährungsempfehlungen der Weltgesundheitsorganisation, erhöhen den Anteil der pflanzlichen Nahrung und reduzieren zumindest den Fleischkonsum.

- Drittens: Wir ernähren uns vegetarisch.

- Viertens: Wir essen ausschließlich vegan.

"Ich war selbst überrascht, wie extrem die Zahlen ausfallen", sagt Springmann. Ab dem Jahr 2050 würde das vegane Szenario pro Jahr 8,1 Millionen weniger Tote durch ernährungsbedingte Krankheiten bedeuten. Allerdings fiele die Umsetzung schwer. Bei einer rein pflanzlichen Ernährung ist viel Sorgfalt nötig, um genug lebensnotwendiges Eiweiß und weitere wertvolle Nährstoffe zu sich zunehmen. Vitamin B12 müssten Veganer trotzdem zusätzlich ergänzen, so der Konsens der Wissenschaft. Im Vergleich dazu ist die Einhaltung der WHO-Empfehlungen machbar und sinnvoll.

Damit ließen sich immer noch rund 5,1 Millionen ernährungsbedingte Tote pro Jahr vermeiden. Was noch hinzukommt: Mehr pflanzliche Nahrung würde ab 2050 zwischen 700 Milliarden und einer Billarde US-Dollar jährlich an Aufwendungen für die Gesundheit einsparen.

Erstmalig hat Springmann außerdem in seiner Studie abgeschätzt, wie sich eine Ernährungsumstellung auf den Klimawandel auswirken würde. Sein Schluss: Macht die Weltbevölkerung so weiter, wird sie die Klimaerwärmung kaum auf zwei Grad begrenzen können. Denn allein die Hälfte des dafür bis 2050 maximal zulässigen CO2-Budgets bräuchten wir dann für die Ernährung. Dabei sei die Entwicklung zu ökologisch unbedenklicheren Produktionsverfahren schon eingerechnet. "Stellen wir unsere Ernährung nicht um, haben wir nicht die geringste Chance, das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen", sagt Springmann. Wie wäre es jetzt mit einem Sellerieschnitzel? (bsc)