Fliegen retten Fische

Inhaltsverzeichnis

An dem wollen auch andere teilhaben. Südlich von Berlin gibt es eine ähnliche Insektenzucht, ebenso in den Niederlanden und in Frankreich – alle bereit, richtig loszulegen. Außerhalb Europas hat man das sogar schon getan: in den USA etwa oder in Südafrika, wo kein Futterverbot für verarbeitetes Fleisch gilt. Bei Kapstadt nimmt dieses Jahr die zurzeit größte Larvenfabrik der Welt den Betrieb auf. Vom Prinzip her funktioniert sie wie die in Ahaus. Doch die Dimension ist eine andere: Sie ist größer als das Deck eines amerikanischen Flugzeugträgers – über 300 Meter lang. Das Betreiber-Brüderpaar David und Jason Drew hat durch geschicktes Marketing Millionen Euro Fördergelder und Investitionen für ihre Firma AgriProtein akquiriert. Nach ebenfalls jahrelanger Forschung haben sie nun eine Hightech-Anlage errichtet, die bei vollem Betrieb jeden Tag 110 Tonnen Abfall verwerten soll. Im Zentrum der Anlage steht ein riesiger Roboter, der Container mit Speiseabfällen und den Endprodukten hin- und hermanövriert. Er macht ohrenbetäubenden Krach. Nebenan in den Bruträumen jedoch ist es recht still: "Dies ist eine Ruhezone. Fliegen bei der Paarung!" steht auf der Tür. Selbst dahinter riecht es nur vage nach Organischem. Dafür sorgt eine leise surrende Lüftungsautomatik.

In einem sozialen Projekt mit Unterstützung der Bill & Melinda Gates Stiftung hat AgriProtein außerdem Toilettenhäuschen in den Slums von Kapstadt aufgestellt. Sie verbessern die Hygiene vor Ort und liefern gleichzeitig Fäkalien als Nahrung für die Insektenzucht. Neben Soldatenfliegen beschäftigen die Drews auch Stuben- und Schmeißfliegen. Die Arten verwerten nicht nur unterschiedliche Abfälle, sie haben nachher auch verschiedene Proteinprofile für verschiedene Futtersorten.

Aus 110 Tonnen Abfall sollen so unter Mithilfe von zig Milliarden Fliegen 24 Tonnen Larven am Tag werden, und aus ihnen wiederum sieben Tonnen Mehl und drei Tonnen Öl. Nebenbei entstehen 20 Tonnen Düngererde. "Das sind 24 Tonnen Fisch pro Tag, die wir weniger fangen müssen", sagt Jason Drew, der schon vor der Gründung der Insektenzucht erfolgreicher Unternehmer war. "Wir recyceln also die Nährstoffe der Speisereste, die unsere Turbogesellschaft gedankenlos wegwirft, produzieren besten Dünger, und als Abfall kommt nichts als Wasser heraus. Damit schlagen wir im wahrsten Sinne mehrere Fliegen mit einer Klappe. Die industrielle Revolution ist vorüber, jetzt beginnt die Revolution der Nachhaltigkeit!"

Drew ist ein Mann großer Worte. Er hat ein Buch geschrieben: "Die Geschichte der Fliege und wie sie die Welt retten könnte". Und er hat angekündigt, bis 2020 zehn weitere Fabriken zu bauen – fünf davon in Europa. "Weltweit würde der Markt 2500 solcher Fabriken hergeben."

Manche Beobachter der Szene sind allerdings skeptisch: "Das größte Problem bei den Alternativen zum Fischmehl ist die Hochskalierung der Produktion", sagt der Aquakulturexperte Ulfert Focken. "Bislang produzieren Fliegenzüchter vielleicht einige Hundert Tonnen Mehl pro Jahr. Das ist angesichts eines weltweiten Futtermittelbedarfs in der Aquakultur von 40 bis 60 Millionen Tonnen nicht mehr als ein Fliegenschiss." In der Massenfabrikation erwartet er ungeahnte Schwierigkeiten, darunter Verunreinigungen durch Keime oder Chemikalien. Züchter selbst berichten, dass ihre Maden zu überhitzen drohen, wenn in einem Raum zu viele gleichzeitig fressen.

Auch deshalb lässt die EU die Option Insektenmehl in einem großen Forschungsprojekt namens PROteINSECT untersuchen: "Für den industriellen Maßstab brauchen wir noch einige Entwicklungsarbeit", sagt Projektleiterin Elaine Fitches von der staatlichen britischen Nahrungsmittelforschungsagentur Fera. Ende 2016 soll das Projekt abgeschlossen sein und eine entsprechende Empfehlung an die EU erfolgen.

Die Skalierung ist jedoch nicht das einzige Problem: Hinzu kommt, dass dem Insektenmehl – genau wie der vegetarischen Kost – bestimmte Omega-3-Fettsäuren fehlen. Weder Landpflanzen noch Fliegen stellen Docosahexaensäure (DHA) und Eicosapentaensäure (EPA) her. Sie stammen fast ausschließlich aus Algen, Fische reichern sie über die Nahrungskette im Körper an. Aber gerade diese Fettsäuren sind der Grund, warum viele Fisch essen. Sie gelten als besonders gesund für Herz und Hirn.

Es gibt Ansätze, auch dieses Defizit zu beheben. Am Naheliegendsten wäre, dem Pflanzen- oder Insektenmehl Algen beizumischen. "So leicht ist das aber nicht", sagt Focken. Denn die Algen müssen unter Sauerstoffausschluss trocknen, damit die Fettsäuren nicht oxidieren und damit wertlos werden. "Das ist sehr aufwendig. Um es zu umgehen, hat man versucht, konzentrierte flüssige Algenmasse beizumischen. Aber auch dafür gibt es noch keine praktikable Lösung."

Ein anderer Ansatz, DHA und EPA in die Zuchtfische zu bekommen, ist die Gentechnik. Die Lachsfarm Verlasso in Chile etwa arbeitet mit Hefen als Futterzusatz, die so manipuliert wurden, dass sie die gewünschten Omega-3-Fettsäuren produzieren. Beim Agrarforschungsinstitut Rothamsted Research in England hat man die entsprechenden Algengene in Leindotterpflanzen eingebaut. Futterversuche zeigen, dass ihr Öl dem Fischöl hinsichtlich der Fettsäuren ebenbürtig ist. Focken bezweifelt jedoch, dass sich der Ansatz durchsetzt. "Bei uns haben die Verbraucher zu große Vorbehalte. Aus meiner Sicht durchaus zurecht. Gelangt das veränderte Genmaterial in die Umwelt, wissen wir einfach nicht, was das für Folgen hat."

Der Aquakulturexperte glaubt daher, dass Fischmehl und -öl einstweilen noch unverzichtbar sind. "Wir sollten es aber effizienter nutzen, etwa indem wir in den frühen Lebensphasen der Fische nur das absolute Minimum einsetzen, das sie zum Wachsen braucht – vielleicht ein Prozent. In der Endmast laden wir sie dann mit höheren Anteilen von Fischmehl und -öl quasi auf, damit nachher alle gewünschten Nährstoffe in ihnen stecken und sie wie gewohnt nach Fisch schmecken."

Für die übrigen Mahlzeiten aber wäre Insektenmehl durchaus eine gute Option. Im Unterschied zur Vegetariervariante steht seine Erzeugung nicht in Konkurrenz zur direkten Nahrungsproduktion für den Menschen. Hinuz kommen die zwei Nebeneffekte Müllverwertung und Gewinnung organischen Düngers. "Praktisch gesehen scheint die Fliegenzucht bislang die interessanteste Proteinalternative zu sein", urteilt der Belgier Paul Vantomme von der Welternährungsorganisation FAO. "Jetzt fehlt nur noch die industrielle Größenordnung." Unternehmer wie Dirk Wessendorf und die Drew-Brüder in Südafrika halten sie für erreichbar. "Wenn ich Fliegenproteine für 1000 US-Dollar pro Tonne herstellen kann, dann sind wir so weit, die Meere zu retten", sagt Jason Drew. (bsc)