Gigantische Masse zerlegt Sternhaufen: Was ist die Abrissbirne der Hyaden?
Seite 2: Auf der Suche nach den verlorenen Hyaden
Um die wahre Ausdehnung der Gezeitenschweife der Hyaden zu ergründen, führten Tereza Jerabkova et al. Simulationen eines fiktiven Hyadenhaufens durch, und zwar auf der Basis der dreidimensionalen Orts- und Geschwindigkeitsdaten des kürzlich veröffentlichten Gaia-DR3-Katalogs: Die Simulationen sollten ermitteln, wo sich die Haufenmitglieder mittlerweile am Himmel befinden könnten und mit welchen Geschwindigkeiten sie dort unterwegs sein sollten. Für die Simulation musste auch der Einfluss der Milchstraße modelliert werden, und das Team erwog mehrere Szenarien (verschiedene Massen der Komponenten Zentrum, Scheibe und Halo, sowie verschiedene "Klumpigkeiten" der Massenverteilung), da die genaue Massenverteilung in der Milchstraße noch nicht exakt bekannt ist.
Das Team um Jerabkova konnte auf diese Weise die Bahn des fiktiven Sternhaufens von seinem Entstehungsort bis heute über mehr als zweieinhalb Umläufe um die Milchstraße rekonstruieren, inklusive der vertikalen Oszillationen um die Ebene der Milchstraße, wie sie auch die Sonne vollführt. Die Simulation generierte ebenso die Gezeitenschweife, die besonders offensichtlich werden, wenn man die Positionen der Sterne zu verschiedenen Zeiten überlagert – man sieht dann, wie sie Orbits um Zonen erhöhter Dichte vollführen, die sich bei den Simulationen bildeten. Wie im Bild zu sehen, erstrecken sich die Gezeitenschweife über 750 parsec, das sind rund 2500 Lichtjahre, beiderseits des Zentrums des Haufens – riesige Distanzen im Vergleich zu dessen Entfernung von der Sonne, welche in der Grafik als gelbe Kreisscheibe im Zentrum abgebildet ist.
Mit den Simulationsdaten gerüstet, suchte das Team nun nach passenden Sternen in den Gaia-DR2- und DR3-Katalogen. Dazu extrahierten sie Sterne innerhalb von 500 parsec (rund 1650 Lichtjahren) um das Haufenzentrum herum mit den zur Modellierung passenden Geschwindigkeiten relativ zur Sonne. Durch Anwendung mehrerer Filterkriterien, die aus den Simulationen abgeleitet wurden, konnte das Team aus anfangs 11 Millionen Kandidaten im Suchbereich 862 Objekte identifizieren, davon 293 im vorauseilenden und 166 im nachhängenden Schweif. Bildet man die Sterne in einem Hertzsprung-Russell-Diagramm ab, welches die Leuchtkraft über der Temperatur der Sterne abbildet, so erhält man eine schöne schmale Hauptreihe, die beweist, dass die Sterne alle gleich alt sind, denn mit zunehmendem Alter driften Sterne in diesem Diagramm nach rechts oben von der Hauptreihe weg. Damit entstammen sie offensichtlich tatsächlich dem Hyaden-Sternhaufen.
Kleine Schönheitsfehler – große Ursache?
Allerdings gibt es drei signifikante Unterschiede zwischen der simulierten und der beobachteten Sternverteilung: erstens finden sich in den echten Hyaden-Gezeitenschweifen keine Zonen erhöhter Dichte, um welche die Sterne kreisen, obwohl diese in den Simulationen ein stets wiederkehrendes Muster waren. Zweitens haben die Hyadensterne eine zu breite Spanne an Geschwindigkeiten, deutlich breiter als auf der Basis des Virialsatzes zu erwarten wäre. Man könnte sagen, der Sternhaufen sei "aufgeheizt". Und drittens sind die vorauseilenden und nachhängenden Gezeitenschweife der Hyaden asymmetrisch: Der nachhängende Schweif ist kürzer und dünner besetzt als der vorauseilende.
Auf der Suche nach möglichen Ursachen untersuchten die Autoren zunächst, ob ein rotierender Hyadenhaufen einen Unterschied machen würde und ließen den simulierten Sternhaufen mal im, mal gegen den Sinn des Umlaufs um die Milchstraße rotieren. Der Drehimpuls verringerte sich jedoch schnell, weil die schnellsten Sterne dem Sternhaufen rasch entschwanden und nach 600 Millionen Jahren war kein messbarer Unterschied mehr zu einem anfangs nicht rotierenden Sternhaufen zu beobachten (der später selbst durch den Umlauf um die Milchstraße leicht in Rotation geriet). Einen Effekt auf die Form oder Symmetrie der Gezeitenschweife gab es nicht.
Als Nächstes führten sie Simulationsläufe durch, bei denen der Sternhaufen Begegnungen mit mehr oder weniger großen Masseklumpen erfuhr. Zahlreiche Massenklumpen von weniger als hunderttausend Sonnenmassen hatten keinerlei Effekt auf die Gezeitenschweife. Wenige Klumpen von mehr als 100.000 Sonnenmassen zeigten einen Effekt auf die räumliche Verteilung der Schweife, verursachten jedoch keine Asymmetrien oder eine verbreiterte Geschwindigkeitsspanne. Eine einzelne Begegnung mit einem massiven Klumpen von 10 Millionen Sonnenmassen sorgte jedoch in einem der Simulationsläufe dafür, dass der Sternhaufen auseinander barst, wobei es vorübergehend zu asymmetrischen Schweifen und einer erhöhten Geschwindigkeitsdispersion kam, und zwar während der Annäherungsphase des Masseklumpens. Das Zerbersten des Sternhaufens ging einher mit einer vorherigen Beschleunigung der Sterne. Während der Simulation trat dann bei einer Annäherung bis auf 380 Lichtjahre Entfernung eben die beobachtete Streuung der Geschwindigkeiten von 0,8 km/s auf. Zwar war in der Simulation im Gegensatz zu den realen Hyaden der nachhängende statt des vorauseilenden Schweifs der dichter besetze, in die Länge gezogene, aber das Autorenteam geht davon aus, dass eine andere geeignete Geometrie der Begegnung auch die beobachtete Störung der Schweife würde reproduzieren können.
Wo ist die große Abrissbirne der Hyaden?
Wenn nun aber eine Anhäufung von 10 Millionen Sonnenmassen gerade die Hyaden zerlegt, stellt sich natürlich die Frage, wo sie ist und von welcher Natur sie sein könnte. In der folgenden Grafik ist zu sehen, dass diese Masse nicht nur den Hyaden, sondern auch der Sonne nahe sein müsste. Es ist aber nicht bekannt, dass sich in der Sonnenumgebung eine signifikante Anhäufung von Sternen, Gas oder Staub befände; wir befinden uns vielmehr in einer lokalen Blase, geschaffen durch Supernovae, die Staub und Gas in der Sonnenumgebung weggeblasen haben. Auch ein supermassereiches Schwarzes Loch kommt nicht infrage – 10 Millionen Sonnenmassen wären zweieinhalbmal die Masse von Sagittarius A*, dem supermassereichen Schwarzen Loch im Zentrum der Milchstraße, das sich über 30.000 Lichtjahre Entfernung durch Radio- und Röntgenstrahlung bemerkbar macht. Ein nahes supermassereiches Schwarzes Loch wäre den Astronomen sicher nicht entgangen. Um was könnte es sich also handeln?
Die Theorie der Galaxienentstehung besagt, dass sich nach dem Urknall die Dunkle Materie zunächst zu kleineren Wolken verdichtete, die allmählich miteinander verschmolzen. Erst bei Massen von 100 Millionen bis einer Milliarde Sonnenmassen brachten sie genug Masse auf, um gewöhnliche, "baryonische" Materie festzuhalten (deren Masse größtenteils in Baryonen wie Protonen und Neutronen steckt), und so bildeten sich in solchen Wolken die ersten Zwerggalaxien aus der eingefangenen baryonischen Materie, die sich wiederum zu größeren Galaxien vereinigten, umgeben von Halos aus der Dunklen Materie, die ihr Baumaterial ursprünglich eingefangen hatte. Dabei löste sich die Substruktur der Dunklen Materie aber nicht vollkommen auf, sondern es sollten bis heute Verdichtungen in den Dunkle-Materie-Halos erhalten geblieben sein. Anhand der Ablenkung des Lichts von Hintergrundobjekten im Schwerefeld solcher Verdichtungen sollten diese sich in den Halos anderer Galaxien nachweisen lassen, und dies gelang auch bereits bei Subhalo-Massen bis hinunter zu 100 Millionen bis 1 Milliarde Sonnenmassen. Kleinere Massen sind schwierig nachzuweisen, werden aber gemäß Simulationen der Strukturbildung im Universum erwartet.
Einige Astronomen sind aktuell auf der Suche nach indirekten Spuren solcher Subhalos Dunkler Materie. Wenn etwa die Gezeitenkraft der Milchstraße eine Kette von Sternen aus einem Kugelsternhaufen herauszieht, so würde ein Subhalo in der Nähe dieses Sternenstroms zu dessen Ablenkung führen. Mit den Hyaden haben wir nun möglicherweise einen Kandidaten direkt vor der Haustüre. Wenn dem so sein sollte, dann dürften ihn die präzisen Messungen der Positionen und Geschwindigkeiten der Sterne in unserer Ecke der Galaxie durch den Astrometriesatelliten Gaia bald aufzuspüren helfen.
- Tereza Jerabkova, Herni M.J. Boffin et al., “The 800 pc long tidal tails of the Hyades star cluster”
- Ana Bonaca, David W. Hogg et al. “The Spur and the Gap in GD-1: Dynamical evidence for a dark substructure in the Milky Way halo”
(mho)