Hohes Restrisiko kontra wenig Ertrag? Die neue deutsche Atomfrage

Angesichts einer möglichen Energiekrise im kommenden Winter wird über längere AKW-Laufzeiten diskutiert. Ein näherer Blick auf Vorteile, Hürden und Risiken.

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(Bild: Pavel Ignatov/Shutterstock.com)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Fatima Abbas
  • dpa
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Mit einer Änderung des Atomgesetzes könnte der Bundestag die drohende Energiekrise im Winter abfedern – sagen Befürworter längerer AKW-Laufzeiten. Der ab dem 1. Januar 2023 gewonnene Atomstrom senke den Gasverbrauch und stabilisiere Stromnetz wie Preise. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) – bisher der Atomkraft gegenüber sehr skeptisch – räumte zuletzt ein, es könne "Sinn machen".

Das wäre im Sinne der Parteichefs von CDU und CSU, Friedrich Merz und Markus Söder, die vor gut zwei Wochen am AKW Isar 2 im bayerischen Essenbach eine Sondersitzung des Bundestages forderten, um das Gesetz zu ändern und neue Brennstäbe zu bestellen. An der Sicherheit des 1988 gebauten Reaktors gebe es keine Zweifel.

Zuvor war ein Schreiben des Prüf-Unternehmens TÜV Süd zur gleichen Einschätzung gekommen. Was die Atomaufsicht des Bundes wiederum scharf kritisiert: Die Periodischen Sicherheitsüberprüfungen (PSÜ), die für einen AKW-Betrieb in Europa alle zehn Jahre verbindlich vorgeschrieben sind, liegen in den drei deutschen AKW 13 Jahre zurück. Im Zuge des Atomausstiegs nach dem Super-GAU von Fukushima im Jahr 2011 wurde den Betreibern die Kontrollauflage erlassen, da klar war, dass die AKW Ende 2022 abgeschaltet würden.

Einem elfseitigen Vermerk des Bundesumweltministeriums vom 29. Juni zufolge ist der Verzicht auf eine PSÜ laut Atomgesetz aber derart bedeutsam, dass dadurch "die Berechtigung zum Leistungsbetrieb unwiederbringlich erlischt". In dem internen Vermerk aus der Abteilung für Nukleare Sicherheit und Strahlenschutz, der der dpa vorliegt, steht noch mehr: "Eine rechtlich zulässige Laufzeitverlängerung setzt also nach verbindlichem EU-Recht voraus, dass die gründliche Prüfung, die üblicherweise mehrere Jahre dauert, vor einem möglichen Weiterbetrieb stattfindet."

Für den AKW-Weiterbetrieb braucht es also eine PSÜ und eine neue Genehmigung zum Leistungsbetrieb – selbst im Fall eines Streckbetriebs, für den vorhandene Brennstäbe genutzt werden würden, wie es bei Isar 2 möglich sein soll. Nun könnte eine PSÜ auch parallel zum (Streck-)Betrieb vorgenommen werden, heißt es aus den Ländern. Dass die AKW die Überprüfung bestehen würden, gilt aber als ausgeschlossen, sie müssen nämlich auch dem Stand von Forschung und Wissenschaft im Jahr 2022 entsprechen.

Und selbst wenn der Bundestag das Atomgesetz ändern und festlegen würde, dass die PSÜ auch diesmal wieder nicht zwingend sei, gäbe es noch weitere Hürden: Eine davon sind die Umweltverbände, die Klagen angedroht haben. In letzter Instanz wäre die Kernenergie dann wieder einmal ein Fall für das Bundesverfassungsgericht.

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1978 hatten die Karlsruher Richter sich bereits mit der Frage befasst, ob die Atomenergie verfassungskonform ist. Damals bejahten sie es, betonten aber, dass die Nutzung nur verfassungsgemäß sei, wenn die Sicherheitsanforderungen den Schutz des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit gewährleisten könnten. Ob die deutschen AKW dies noch immer erfüllen, ist zumindest fraglich.

Insgesamt müssten die Entscheider auch abwägen, für welchen Energieertrag welches atomare Risiko akzeptabel wäre. Im Falle eines Streckbetriebs von Isar 2 betrüge der Anteil an der Stromproduktion laut Experten weniger als ein Prozent. Die Atomkraftwerke Emsland in Niedersachsen und Neckar-Westheim in Baden-Württemberg könnten ohne neue Brennstäbe nichts nennenswertes beisteuern.

Zudem fordert das Europarecht ebenfalls die PSÜ als Voraussetzung für einen Leistungsbetrieb. Würden neue Genehmigungsverfahren notwendig, wären auch eine Beteiligung der angrenzenden EU-Länder und eine Umweltverträglichkeitsprüfung nötig. Auch das macht die Sache kompliziert.

Genau wie die Haltung der AKW-Betreiber. Die wollen im Falle einer Laufzeitverlängerung nämlich keine Verantwortung für Sicherheitsrisiken übernehmen. Damit müsste dann der Staat in die Haftung gehen. Der ist aber auch für die Kontrolle zuständig, was nicht nur einen Interessenkonflikt, sondern im Schadensfall auch Milliardenkosten mit sich bringen könnte.

Das Gleiche gilt auch für die noch ungeklärte Suche nach einem Endlager für den hoch radioaktiven Atommüll – sollte es gar zum Weiterbetrieb mit neuen Brennstäben kommen, dürfte der fragile Konsens für das laufende Standortsuchverfahren schnell in einer Sackgasse landen.

Vieles spricht also gegen eine Laufzeitverlängerung. Diese Position vertreten die von den Grünen geführten Ministerien für Umwelt und Wirtschaft seit Monaten. Wirtschaftsminister Robert Habeck sagte noch am Sonntag über die Atomkraft: "Das ist nicht die günstigste Technologie und auch nicht die sicherste Technologie zur Versorgung von Europa und der Welt für die Zukunft." Dass dennoch der zweite Stresstest in Auftrag gegeben wurde, um die Frage erneut zu prüfen, lässt sich auch als strategischen Zug betrachten: Wenn das für Ende des Monats erwartete Ergebnis der Sonderanalyse des Stromnetztes ergibt, dass die Kernenergie die Energieversorgung nicht wirklich verbessert, würde das den Befürwortern viel Wind aus den Segeln nehmen.

Auch Grünen-Chef Omid Nouripour verweist auf Nachfrage auf das Ergebnis des Stresstests, den er abwarten wolle. "Und dann entscheiden wir anhand der Fakten, wie bisher." Gleichzeitig verdeutlicht er, dass er keine Zukunft für die Atomkraft sieht: "Das Gerede über den Wiedereinstieg, über Atomkraft als angebliche Zukunftstechnologie, ist eine Märchendebatte." Sollte der Stresstest aber genau das Gegenteil ergeben, dann hat Deutschland neben der Energiefrage auf längere Sicht wohl noch ganz andere Probleme.

Drei AKW sind noch in Deutschland in Betrieb (7 Bilder)

Seit März 1984 ist Block C des AKW im bayerischen Gundremmingen in Betrieb. Block A war von 1967 bis 1977 in Betrieb. Der 1984 ans Netz gegangene Block B wurde am 31. Dezember 2017 abgeschaltet, Block C – ebenfalls 1984 in Betrieb genommen – folgte Ende 2021. (Bild: kkw-gundremmingen.de)

(tiw)