Kernkraft: Wie der Streckbetrieb von Atomkraftwerken funktioniert

In der Diskussion, ob die Kernkraftwerke in Deutschland länger betrieben werden sollten, ist immer wieder von Streckbetrieb die Rede. Was genau bedeutet das?

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 246 Kommentare lesen

(Bild: Pavel Ignatov/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Inhaltsverzeichnis

Die drei letzten Atomkraftwerke in Deutschland müssen nach geltendem Recht spätestens am 31. Dezember 2022 abgeschaltet werden. Doch angesichts des Gasmangels mehren sich politische Forderungen, die Kraftwerke länger laufen zu lassen. In diesem Zusammenhang taucht regelmäßig das Stichwort "Streckbetrieb" auf, der für einen längeren Zeitraum eine – allerdings reduzierte – Energieproduktion der AKWs ermöglichen würden. Doch was ist das eigentlich genau? Wie lange können die Kernkraftwerke in diesem Modus laufen? Und ist das wirklich sicher?

Wie fast alle in Deutschland gebauten und betriebenen Atomkraftwerke sind auch die drei letzten, noch nicht abgeschalteten Atommeiler Druckwasserreaktoren. In solchen Reaktoren wird der Brennstoff in Form von Brennelementen eingebracht. Die Brennelemente wiederum bestehen aus Brennstäben, in denen der eigentliche Spaltstoff in Tablettenform eingeschlossen ist. Die einzelnen Brennstäbe werden durch ein mechanisches Gerüst zu einem Brennelement zusammengefasst. In einem typischen Druckwasserreaktor mit 1.400 MW Leistung befinden sich 193 Brennelemente mit je 300 Brennstäben.

Der Kernbrennstoff besteht im Wesentlichen aus Uran 238. Nur ein kleiner Teil – etwa fünf Prozent – ist Uran 235. Dieses Uran-Isotop wird als eigentlicher Spaltstoff verwendet, weil es einen hohen Wirkungsquerschnitt für thermische, also vergleichsweise langsame, Neutronen hat. Das in Druckwasserreaktoren als Kühlmittel eingesetzte Wasser bremst die bei der Kernspaltung frei werdenden schnellen Neutronen und macht sie so für weitere Kernspaltungen verfügbar.

Frisch beladene Reaktorkerne enthalten mehr spaltbares Material, als zur Aufrechterhaltung der nuklearen Kettenreaktion nötig wäre. Die sogenannte "Überschussaktivität" wird durch neutronenabsorbierende Stoffe im Kühlwasser – zum Beispiel Borsäure – und in den Reaktorkern hereingefahrene Steuerstäbe kompensiert. Im Laufe des Betriebs wird der Anteil an Borsäure immer weiter reduziert, und die Steuerstäbe herausgezogen. Lässt sich der Anteil der Borsäure nicht mehr weiter senken, ist "das natürliche Zyklusende erreicht", schreibt die Gesellschaft für Reaktorsicherheit auf ihrer Website. Der Anteil an Uran 235 ist dann auf etwa 0,6 Prozent gesunken, die Überschussaktivität verbraucht.

Mehr zu Atomkraft

Der Reaktor würde sich dann gewissermaßen selbst abschalten. Man kann diesen Prozess des "selbst Abschaltens" verlangsamen, indem beispielsweise die Kühlmitteltemperatur im Reaktor gesenkt wird. Das erhöht die Dichte des Kühlmittels, wodurch die Neutronen besser abgebremst werden und letztlich mehr Neutronen für die Spaltung zur Verfügung stehen. Allerdings sinkt einerseits – im "Stretch out" oder "Streckbetrieb" die Aktivität und andererseits ist bei gesenkter Temperatur des Kühlmittels auch die am Generator verfügbare Leistung kleiner. Nach 80 Tagen Streckbetrieb hat der Reaktor dann noch etwa 60 Prozent seiner Leistung.

Das ist allerdings nur eine sehr grobe Zusammenfassung der technischen Grundlagen. Der reale Betrieb ist weitaus komplexer: So trägt nicht nur das Uran 235 zur Energiegewinnung bei, sondern auch Uran 238, das durch schnelle Neutronen gespalten wird, die noch nicht oder nur wenig abgebremst wurden. Außerdem entsteht durch Neutroneneinfang und
ß-Zerfall Plutonium 239, das ebenfalls durch schnelle Neutronen gespalten werden kann. Gleichzeitig entsteht eine große Bandbreite von Spaltprodukten, unter denen auch stark neutronenabsorbierende Atomkerne sind. Der Neutronenfluss im Reaktor kann sich also lokal stark unterscheiden. Um den nuklearen Brennstoff optimal auszunutzen, lagern die Betreiber die Brennelemente daher in regelmäßigen Zeiträumen um, und tauschen alte, komplett abgebrannte Brennstäbe aus.

Die Energie, die durch die Kernreaktion frei wird, bezogen auf die Masse an eingesetztem Schwermetall wird als "Abbrand" bezeichnet – je höher der Uran-235 Anreicherungsgrad und je länger ein Brennelement im Reaktor bleibt, desto höher ist der Abbrand. Als technisch begrenzender Faktor hat sich dabei die Dicke der Oxidschicht erwiesen, die sich auf den Hüllrohren im Lauf des Betriebes bilden. Der zulässige mittlere Abbrand liegt in der Regel um die 50 Gigawatttage pro Tonne Schwermetall.

Um kein wertvolles Brennmaterial zu vergeuden, betreiben die Energieversorger ihre Atomkraftwerke so, dass sie möglichst nahe an diesen maximalen Abbrand herankommen. "Das Abschaltdatum wird in der Fahrweise des Reaktors berücksichtigt, um den vorhandenen Kernbrennstoff in der vorgegebenen Zeit optimal auszunutzen", bestätigt der Greenpeace-Atomexperte Heinz Smital: "Am Beispiel der Ende 2021 abgeschalteten Reaktoren lässt sich das gut ablesen. So erzeugte Gundremmingen C die höchsten je erzeugten Strommengen im Abschaltjahr 2021."

Dort gingen die Betreiber am 16. Oktober 2021 in einen Streckbetrieb, der bis zum endgültigen Abschalten 76 Tage dauerte. "Es ist sehr sinnvoll in dem genehmigten Zeitraum für die Leistungsproduktiondie Brennelemente auch im Streckbetrieb zu nutzen", schreibt Smital. "Allerding ist die Restmenge an verfügbarer Leistung danach nicht mehr sehr groß und der Beitrag zu einer Stromversorgung sehr gering."

Soll heißen: Ob und wieviel Energie die drei noch laufenden deutschen Kraftwerke noch liefern können, ohne neue Brennelemente zu bekommen, hängt von der bisherigen Nutzung der Reaktoren ab. Da die Betreiber bislang von einer Stilllegung der Anlagen Ende des Jahres ausgehen mussten, ist es nur naheliegend zu vermuten, dass die noch vorhandenen Reserven gering sind. In einem Gutachten des TÜV Süd geht man für den Reaktor Isar 2 von "Reaktivitätsreserven" aus, die für "einen Weiterbetrieb von 80 Tagen" ausreichen würden.

Interessanterweise sind diese 80 Tage genau der Zeitraum, den die GRS für einen Streckbetrieb veranschlagt – allerdings taucht das Wort "Streckbetrieb" in dem umstrittenen Gutachten nicht auf. Technische Fragen zum Streckbetrieb von Kernreaktoren wollte der TÜV Süd allerdings nicht beantworten: "Bitte wenden Sie sich für Ihre Anfrage direkt an die Betreiber der KKW oder die GRS (Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit)."

(wst)