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Im Tal der Ahnungslosen: Studie zu Fahrassistenzsystemen

Christian Domke Seidel

Moderne Autos bekommen immer mehr autonom agierende Assistenz. Ab 2022 werden einige davon zur Pflicht.

(Bild: Shutterstock/metamorworks (h/o Archiv))

Eine Studie des Automobilverbands FIA warnt vor diversen Fehlerquellen in den ab 2022 vorgeschriebenen Assistenzsystemen – inklusive ahnungslosen Fahrern.

Autofahrer haben nur wenig Ahnung von den Assistenzsystemen im eigenen Auto. Das ist ein Ergebnis einer Studie des internationalen Dachverbands der Automobilclubs FIA – und schlecht. Unter anderem deshalb, weil ab 2022 bei allen Neuwagen eine ganze Reihe von Assistenzsystemen Pflicht sein werden. Die Studie hat sich auch damit beschäftigt, woher die Wissenslücken kommen, wie sie behoben werden können und welche anderen Probleme die neu vorgeschriebene Technik mit ins Auto bringt.

Es ist eine erschreckende Zahl. Je nach Fahrassistenzsystem verstehen zwischen 70 und 99 Prozent der Fahrer nicht, wie es funktioniert und was es tut. Für diese Zahl hat die FIA über 9000 Fahrer aus sechs europäischen Ländern befragt. Die Studie beschäftigte sich mit sechs Assistenten:

* (Die Geschwindigkeitsassistenz, die vorgeschrieben werden soll, besteht laut dem Entwurf der Verordnung [1] nur aus einer Verkehrszeichenerkennung per Kamera mit anschließendem Warnimpuls für den Fahrer bei Überschreitung, siehe Seite 46).

Diese Systeme hat sich die FIA genauer angeschaut, weil sie nach einem EU-Beschluss aus dem Mai 2019 ab Mai 2022 für alle neu homologierten Fahrzeuge Pflicht werden und ab Mai 2024 auch für alle erstmals zugelassenen. Das hat seine Gründe. Rund 25.000 Verkehrstote und 135.000 Verletzte gibt es in der EU pro Jahr. Tendenz sinkend, nicht zuletzt wegen ständiger Fortschritte in der Sicherheitstechnik.

Die Hoffnungen in die neuen Techniken sind groß. So gab Elżbieta Bieńkowska, EU-Kommissarin für Industrie, per Presseaussendung bekannt: "Mit den erweiterten Sicherheitsmerkmalen werden wir eine ähnlich große Wirkung erzielen wie seinerzeit mit der Einführung der ersten Sicherheitsgurte. Viele der neuen Funktionen gibt es schon heute, vor allem aber in Fahrzeugen der Luxusklasse. Jetzt erhöhen wir das Sicherheitsniveau generell für alle Kraftfahrzeuge."

Studie zu Fahrassistenzsystemen (0 Bilder) [2]

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Zur Einordnung: 1984 gab es – obwohl der Sicherheitsgurt bereits seit zehn Jahren verpflichtend eingebaut werden musste – immer noch 15.000 Verkehrstote allein in Deutschland. Als ein Jahr später die (umstrittene) Gurtpflicht im Gesetz verankert wurde, sackte die Zahl der Todesopfer schlagartig auf 9000 ab.

Die Logik hinter der neuen Vorschrift ist, dass 90 Prozent aller Unfälle auf menschliches Versagen zurückzuführen sind. Entsprechend soll der menschliche Faktor im Alltagsverkehr minimiert und kritische Entscheidungen an den Computer übergeben werden. Doch die Zeiten haben sich geändert. Assistenzsysteme sind unendlich viel komplexer als Sicherheitsgurte und brauchen einen entsprechenden gesetzlichen Rahmen. Denn die Systeme kämpfen mit Unzulänglichkeiten, rechtlichen Grauzonen und einem erschreckend hohem Unwissen seitens der Fahrer.

Die FIA konfrontierte die Fahrer mit verschiedenen Aussagen zu den Assistenzsystemen. Sie sollten angeben, ob sie richtig oder falsch waren. Später wurden Interviews geführt und Fragen gestellt wie "Bremst das Fahrzeug, wenn der Wagen auf einen Stau zufährt?", "Erkennt das System auch Motorradfahrer?" oder "Müssen Sie die Hände am Lenkrad lassen?". Zwar variiert das Wissen je nach System, dennoch sind die Wissenslücken erschreckend. Es zeigt, dass mindestens 70 Prozent der Befragten ihr Wissen um die Technik, die sie täglich bedienen, teils enorm überschätzen.

Das ist aber kein Wunder. Bei den Interviews fand die FIA auch heraus, dass die Fahrzeugbesitzer in 99 Prozent der Fälle keine Schulung von den Händlern oder den Herstellern bekommen haben. Die meisten Probanden gaben an, sich die Funktionsweise der Assistenzsysteme per Handbuch und Trial-and-Error beigebracht zu haben. Das größte Problem hierbei ist, dass die Kunden nicht über die Grenzen der Systeme aufgeklärt werden. Das führt zu einem Übervertrauen in die Assistenzsysteme. Trauen die Fahrer der Elektronik aber mehr zu, als diese wirklich leisten kann, kommt es automatisch zu gefährlichen Situationen im Straßenverkehr. Eine Forderung der FIA ist daher, dass mit der gesetzlichen Pflicht zum Einbau der Systeme auch Regeln eingeführt werden, welche Informationen Händler bereitstellen müssen.

Doch es gibt noch ein weitaus größeres Problem, dem sich die FIA widmet: die Funktionalität der Assistenzsysteme. Klar ist, dass Assistenzsysteme nicht fehlerfrei arbeiten können, selbst wenn die äußeren Umstände perfekt sind. Ein Premiumfahrzeug benötigt für die Datenverarbeitung etwa 100 Millionen Zeilen Code. Dabei handelt es sich um einen Wert, der für Fahrzeuge der Autonomiestufe zwei gilt – also für ein teilautomatisiertes Auto mit Spurhalte- und Stauassistent.

Ein absoluter Bestwert sei aktuell ein Fehler pro 10.000 Zeilen Code [4], rechnete Wilfried Steiner, Forschungsleiter bei TTTech, auf dem GSV Forum [5] vor. Das sind in Summe also 10.000 Fehler in der Software. Dazu kommt, dass es keine amtlichen Vorgaben gibt, wie umfangreich die Systeme getestet werden müssen. Während europäische Hersteller den Assistenten einen Fehler auf 500.000 Testkilometern erlauben, sind es bei asiatischen Produzenten 800.000 Kilometer.

Noch gar nicht mit eingerechnet sind hier äußere Umstände. Radar und Kameras werden bei den Autoherstellern immer beliebter, weil deren Preis rapide sinkt. Dreck, Schneematsch, Eis oder einfaches Gegenlicht erhöhen aber vor allem die Fehlerquote der Kameras enorm. Eine Lösung wären Sensoren auf Laserbasis, die aber in vielen Fällen noch zu teuer sind.

Diese Probleme offenbaren eine weitere Schwachstelle der Assistenzsysteme: Das Auto informiert oft nicht ausreichend darüber, ob die Helfer nun tatsächlich aktiv sind oder nicht. Im schlimmsten Fall verlässt sich der Fahrer darauf, dass der Wagen von selbst die Spur hält, rammt dabei aber ein Nachbarfahrzeug. Oder er fährt im Stau auf seinen Vordermann auf.

Wartung und Überprüfung der Systeme sind also enorm wichtig. Doch auch hier zeigt sich eine enorme Schwachstelle. Geht es nach der FIA, müssen die Assistenzsysteme und deren Bauteile regelmäßig kontrolliert, gewartet und kalibriert werden. So könne bereits der Austausch einer Stoßstange oder einer Windschutzscheibe schon dazu führen, dass manche Extras nicht mehr ordentlich arbeiten. Die entsprechenden Arbeiten dürften die Werkstattrechnung entsprechend verteuern.

Doch diese Forderung ergibt nur Sinn, wenn Software, Sensoren und Kameras vom Hersteller noch Updates und Reparaturen bekommen. So gäbe es laut FIA noch nicht ausreichend Daten, was die Lebensspanne der einzelnen Bauteile inklusive Software betrifft. Von einem gesetzlichen Rahmen ganz zu schweigen.

Natürlich gibt es bei derartigen Mengen an Daten, die moderne Autos sammeln, auch die Frage nach der Transparenz. Der ist der Allgemeine Deutsche Automobil-Club (ADAC) in einer qualitativen und nicht repräsentativen Studie nachgegangen. Für den ADAC haben Experten im Dezember 2020 die Datenerhebung zweier Modelle verglichen, einer Mercedes B-Klasse [6] W246 (2011-2018) und einem Renault Zoe (erste Modellreihe, Test) [7]

Dabei kam Erstaunliches heraus. So übermittelt der Mercedes unter anderem alle zwei Minuten die Position des Fahrzeugs an Daimler, speichert Fehlermeldungen gemeinsam mit Informationen zur Drehzahl und unterscheidet bei den gefahrenen Kilometern zwischen Stadt, Autobahn und Landstraße. Auch der Renault Zoe übermittelt regelmäßig die Position und dabei gleich ein ganzes Datenpaket, gibt der ADAC weiter an. Unter anderem ist es Renault erlaubt, Ladevorgänge für das Elektroauto über eine Mobilfunkverbindung jederzeit abzubrechen, sollte eine Leasingrate nicht bezahlt worden sein.

Eine Schlussfolgerung des ADAC überrascht auf den ersten Blick. So fordert er zwar einerseits größtmögliche Transparenz und verlangt, dass die Hersteller alle Daten auflisten, die der Wagen sammelt. Dazu soll eine neutrale Stelle die Datensicherheit prüfen. Selbst eine Opt-out-Möglichkeit verlangt der ADAC, damit die Fahrer die freie Wahl haben, ob die Daten überhaupt gesammelt und übermittelt werden. "Datensparsamkeit ist wichtig", betont der Club. Auf der anderen Seite fordert der ADAC aber einen quasi freien Zugriff auf die gesammelten Daten für andere Unternehmen. Einen "diskriminierungsfreien Zugang", nennt das der ADAC und denkt dabei vor allem an freie Werkstätten und Pannenhelfer.

Ähnlich wie der ADAC erkennt auch die EU keine große Problematik, wenn es um die Sammlung von Daten geht. Ohnehin liegt der Fokus bei dieser weiteren Novelle weniger auf der Sicherheit der Autofahrer. Die aufgelisteten Assistenzsysteme dienen in erster Linie der Sicherheit von Radfahrern und Fußgängern. Die EU hat das langfristige Ziel, dass ab dem Jahr 2050 niemand mehr im Straßenverkehr getötet oder schwer verletzt wird. Eine Pflicht zu Assistenzsystemen gilt bei diesem Vorhaben als wichtiger Bestandteil.

(fpi [8])


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[1] https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/A-8-2019-0151-AM-110-110_DE.pdf?redirect
[2] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_5068666.html?back=5068656;back=5068656
[3] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_5068666.html?back=5068656;back=5068656
[4] https://gsv.co.at/wp-content/uploads/Bericht%20Fahrerassistenzsysteme%202020%2003%2030.pdf
[5] https://gsv.co.at/wp-content/uploads/GSV%20Infoflyer%202019.pdf
[6] https://www.heise.de/autos/artikel/Die-modellgepflegte-B-Klasse-von-Mercedes-Benz-2390459.html
[7] https://www.heise.de/autos/artikel/Fahrbericht-Renault-ZOE-2750757.html
[8] mailto:fpi@heise.de