Im reproduktiven Supermarkt

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TR: Sie unterscheiden "pädiatrische" Gesellschaften wie Nigeria, geprägt von den jüngsten, und "geriatrische" wie die USA, geprägt von den ältesten Mitgliedern der Gesellschaft. Müssten pädiatrische Länder dann nicht viel mehr auf Verhütung setzen, als sie es faktisch tun?

Djerassi: In Ländern wie Pakistan und Nigeria, deren Population immer jünger wird, wäre es wünschenswert, sogar dringend angeraten, sich auf die gesellschaftliche Implementierung von Geburtenkontrolle zu besinnen. Dass sich "geriatrische" Länder dagegen bei der Empfängnisverhütung hervortun, sehe ich nur bedingt. Dort geht es heute viel mehr um Konzeption als um Kontrazeption.

TR: Und zufällig sind es genau die "geriatrischen" Länder, die auch die größten Ressourcen für pharmazeutische und medizinische Forschung haben?

Djerassi: Die 20 größten Pharmaunternehmen der Welt sitzen allesamt in den geriatrischen Staaten – somit sind auch ihre Märkte vollkommen geriatrisch. Natürlich sind diese Länder in erster Linie an den gigantischen Multimilliarden-Dollar-Projekten interessiert. Natürlich konzentrieren sie sich auf die Krankheiten der überalterten Gesellschaft: Krebs- und Alzheimer-Forschung haben dort einen viel höheren Stellenwert als Kontrazeption – verständlicherweise. Das finde ich nicht verwerflich, sondern logisch. Neben AIDS ist Alzheimer eines der größten medizinischen Probleme unserer Zeit, die finanziellen und gesellschaftlichen Kosten sind horrende. Das sind wichtige Herausforderungen, die man nicht gegeneinander aufwiegen kann.

TR: Werfen Sie der geriatrisch geprägten Pharmaindustrie vor, zu wenig für die "pädiatrischen" Herausforderungen zu tun?

Djerassi: Nein, wenn auch nur aus dem Grund, weil sich die assistierte Reproduktion als Ausweg anbietet. Das ist der große Vorteil von ART: dass sie die erwähnte Kontrolle in die Hände der Zeugenden verlegt. Das ist einer der wichtigsten Gründe für IVF überhaupt, und ich bin überzeugt, dass sich auch immer mehr fruchtbare Frauen diesen Verfahren unterziehen werden. Denn die Wissenschaft dazu ist praktisch vollständig. Und im Gegensatz zu oralen Verhütungsmitteln, Impfungen und Medikamenten gibt es hier eben keinerlei Bedenken hinsichtlich der pharmazeutischen Industrie. Das sind reine "Mama-und-Papa-Operationen".

TR: Demnach haben Sie als Erfinder – und somit auch Profiteur – des wichtigsten Verhütungsprodukts der Welt selbst durchaus Bedenken hinsichtlich der Pharmaindustrie?

Djerassi: Verhütungsmittel sind anspruchsvolle Produkte, und natürlich bereichert sich die Pharmaindustrie gewissermaßen an der Zeugungsfähigkeit ihrer Klientel. Das kann man ihr aber kaum vorwerfen. Was man aber bemängeln kann, ist, dass sie aus falschen Motiven Forschung und Entwicklung betreibt oder aber unterdrückt. Und ein Profiteur dieses Produkts bin ich überhaupt nicht: Das Patent auf die Substanz, die wir 1951 in Mexiko entdeckt haben, ist schon seit fast 40 Jahren nicht mehr gültig, und Tantiemen habe ich sowieso nie dafür erhalten.

TR: Haben Sie ein Beispiel für solche falschen Motive?

Djerassi: Ja, die Entwicklung der Pille für den Mann. Männliche Kontrazeption ist eigentlich ganz einfach, wir wissen genau, wie es funktioniert, nicht nur im Labor. Es hat da genügend klinische Versuche gegeben. Die WHO hat die Forschung in diesem Bereich aus politischen Gründen stark subventioniert – wenngleich aus guten politischen Gründen, weil es völlig richtig und gerechtfertigt ist, die Förderung auch auf Männer auszudehnen.

TR: Wie funktioniert denn die Pille für den Mann?

Djerassi: Prinzipiell genauso wie bei Frauen. Also statt den Eisprung zu unterdrücken, wird die Spermienproduktion unterdrückt. Das ist mit chemischen Mitteln machbar, aber das Problem ist, dass die Männer dabei ihre Libido verlieren. Deshalb muss zugleich immer Testosteron als Gegenmittel dazugegeben werden, und dann ist die Balance zwischen den einzelnen Hormonen schwierig. Ansonsten, wenn die Libido verloren geht, braucht man eh keine Verhütungsmittel mehr…

TR: Da haben Sie natürlich einen Punkt! Hat denn die Pharmaindustrie gar kein Interesse daran, dieses Dilemma zu lösen?

Djerassi: Zwei Firmen behaupteten eine Zeitlang, das Feld zu beackern: Organon und Schering. Und eine kurze Zeit lang haben sie es sogar getan. Aber ich glaube, das war eine Ausflucht, um zu demonstrieren, dass sie das Problem anerkennen. Dann haben beide angekündigt, gemeinsam an der Männerpille zu forschen – was natürlich ohne Beispiel ist, weil diese zwei Firmen bei weiblichen Kontrazeptiva die schärfsten Konkurrenten sind. Vermutlich weil beiden klar war, dass es keinen Gewinn verspricht, und sie somit wenigstens die Verluste halbieren wollten. Dann wurde Organon von der (amerikanischen) Schering übernommen, und Schering von Bayer. Und nun arbeitet niemand mehr an der Sache.

TR: Also ist für Männer das Verhütungsmittel der Wahl nach wie vor eine Vasektomie – das Durchtrennen der Samenleiter?

Djerassi: In Kombination mit Spermienkonten ist es auch eine sehr gute Methode. Ich selbst hatte mit Anfang 50 eine – und Sterilisation ist viel häufiger als landläufig vermutet. In China etwa ist bei etwa der Hälfte aller verheirateten Paare einer der Partner sterilisiert; in den USA sind es gut 30 Prozent. Nun zeigt sich aber, dass sich dreimal so viele Frauen wie Männer sterilisieren lassen, was lächerlich ist, weil die männliche Sterilisation sehr viel einfacher ist. Aber trotzdem machen es Millionen von Männern, die entweder schon Kinder bekommen haben oder von vornherein keine Kinder wollten. Aber heute können Männer, statt mit 40, 50 Jahren, sich auch mit 20 sterilisieren lassen, sobald ihre Samenzellen konserviert worden sind.

TR: Womit Sie dann Ihre eigene Erfindung – die Geburtenkontrolle mit chemischen Produkten – obsolet gemacht hätten.

Djerassi: Ja, so ist eben die Entwicklung, in der westlichen Welt zumindest. Solange garantiert ist, dass eingelagerte Keimzellen später im Leben noch fruchtbar sind – und so weit sind wir mittlerweile bei Spermien auf jeden Fall, bei Eizellen gibt es noch Probleme beim Auftauen –, sehe ich absolut keinen Grund, warum Männer nicht diesen Weg gehen sollten: Ihre Samenzellen früh im Leben einfrieren und sich dann sterilisieren lassen. (bsc)