Jagd auf DNA-Phantome

Pannen bei der Fahndung nach dem "Phantom von Heilbronn" haben das Vertrauen in die Nutzung des genetischen Finderabdrucks erschüttert. Das Bundeskriminalamt versucht nun, ähnlichen Irrtümern vorzubeugen.

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Von
  • Thomas Gabrielczyk
Inhaltsverzeichnis

Pannen bei der Fahndung nach dem "Phantom von Heilbronn" haben das Vertrauen in die Nutzung des genetischen Finderabdrucks erschüttert. Das Bundeskriminalamt versucht nun, ähnlichen Irrtümern vorzubeugen.

Den Tathergang konnten die Ermittler nur noch bruchstückhaft nachstellen. Am 25. April 2007 gegen 13.45 Uhr hatten die 22-jährige Polizeimeisterin Michele Kiesewetter und ihr zwei Jahre älterer Kollege Martin Arnold ihren Dienst-BMW auf der Theresienwiese in Heilbronn geparkt. Das Volksfest, auf dem beide Streife gehen sollten, erreichten sie nicht mehr. Eine Viertelstunde später lagen sie, von Kopfschüssen niedergestreckt, im harten Schotter. "Ermordet durch Schusswaffengebrauch" sollte später im Polizeiprotokoll unter dem Namen der Polizistin stehen. Arnold, der schwer verletzt überlebte, kann sich bis heute nicht erinnern, was damals passierte. Der einzige Hinweis für die Ermittler der Sonderkommission "Parkplatz": eine DNA-Spur am Wagen der jungen Polizisten.

Bis zu dieser Tat war die Verbrechensbekämpfung mithilfe der winzigen DNA-Spuren eine einzige Erfolgsgeschichte – hinterlässt doch jeder Täter am Tatort seine ganz persönliche Visitenkarte in Form kleinster Hautschüppchen oder Haare, aus denen sich sein genetischer Fingerabdruck gewinnen lässt. Diese DNA-Spuren vom Tatort vergleichen die Kriminologen mit den Profilen, die das Bundeskriminalamt (BKA) in seiner DNA-Analyse-Datei (DAD) speichert. Die Bedeutung der DNA-Fahndung ist seit Einrichtung der DAD vor zwölf Jahren enorm gewachsen. Umfasste die zentrale Datenbank in Wiesbaden anfangs nur wenige Tausend Datensätze, so befanden sich Ende 2010 die DNA-Signaturen von 711159 Tätern und Verdächtigen sowie 184782 noch nicht zugeordnete Tatortspuren in dem Register. Nach England mit gut fünf Millionen Datensätzen belegen die Deutschen damit einen Spitzenplatz in Europa.

Seit dem Bestehen der Datenbank halfen die DNA-Profile laut BKA-Statistik dabei, insgesamt 958 Mörder, 1791 Vergewaltiger, 5630 Räuber und Erpresser, 1176 Gewalttäter und 674 Gemeingefährliche zu überführen. Die Spitze bilden aber gar nicht Schwerverbrechen, sondern weniger bedrohliche Delikte: So konnten fast 66000 Diebstähle aufgeklärt werden, weil DNA-Spuren am Tatort die Täter verrieten. Um Schwerstverbrecher und Autoknacker künftig auch über die offenen Landesgrenzen Europas verfolgen zu können, haben die EU-Staaten Anfang 2007 vereinbart, gegenseitig auf ihre DNA-Datenbanken zugreifen zu dürfen. Auch die US-Bundespolizei FBI darf die Datensätze aus der DAD abfragen. Die DNA-Spurensicherung gewinnt also auch international an Bedeutung.

Der Mord an Michèle Kiesewetter markiert indes den schwarzen Freitag für das BKA und seine DNA-Datenbank. Es folgte die größte und teuerste Ermittlungspanne in der Geschichte der deutschen Kriminalpolizei. Auf der Jagd nach dem Mörder waren zuletzt fünf Sonderkommissionen immer wieder auf die DNA-Spur einer bestimmten Frau gestoßen. Doch die vermeintlich extrem gefährliche, unberechenbare, skrupellose und umtriebige Serienmörderin und Diebin, deren DNA-Spuren die Ermittler an insgesamt 40 Tatorten in Deutschland, Österreich und Frankreich hinterherjagten, hat es nie gegeben: Wie Kriminologen Ende März 2009 entdeckten, stammt die Trugspur des "Phantoms von Heilbronn" von einer ehemaligen Mitarbeiterin einer Laborzubehör-Firma, bei der die Wattestäbchen für die Spurensicherung verpackt wurden. Jahrelang hatten sich die Kriminalisten auf Materialien verlassen, die zwar als steril zertifiziert, aber eben nicht DNA-frei waren. Kurze DNA-Bruchstücke, die zur Analyse des genetischen Fingerabdrucks ausreichen, überstehen die Sterilisation nämlich meist problemlos.

Das BKA reagierte schnell. Bereits wenige Tage nach Bekanntwerden der peinlichen Panne beauftragte es zwei Arbeitsgruppen: Ein hausinternes Team sollte Strategien entwickeln, um weitere Trugspuren in der DAD zu erkennen. Eine zweite mit Experten aus dem BKA und sieben Landeskriminalämtern (LKA) besetzte Bund-Länder-Projektgruppe sollte bundesweit geltende Regeln entwickeln, um Spurensicherungs- und -analysematerialien künftig frei von Fremd-DNA zu halten. Noch im gleichen Monat legte die Bund-Länder-Projektgruppe einen Maßnahmenkatalog vor, der weitere Phantome verhindern soll. Nach den derzeit noch unter Verschluss gehaltenen Plänen, die Technology Review vorliegen, sollen die Hersteller künftig garantieren, dass ihre Materialien zur Spurensicherung frei von menschlicher DNA sind. Ein Plan, dem sich die – nach dem Ermittlungsflop in der Kritik stehenden – Innenminister der Länder gern anschlossen, lenkte er doch die Aufmerksamkeit auf die Materiallieferanten statt auf ihre BKA-intern als zu DNA-fixiert bezeichneten Ermittler.

Auch das FBI sowie australische, britische und andere europäische Polizeiorganisationen hatten bereits Trugspuren in ihren DNA-Verbrecherregistern ausgemacht und wollen diese gegen weitere Kontaminationen sichern. Denn das "Phantom von Heilbronn" ist nur die Spitze des Eisberges. Wie sehr die DNA-Verbrechensregister tatsächlich mit falschen Spuren verseucht sind, ist noch Gegenstand von Hochrechnungen. Der britische Forensic Science Service, der weltweit erstmals Trugspuren in der zentralen UK National DNA Database aufspürte, hat auf Basis der erfassten DNA-Kontaminationen eine Wahrscheinlichkeit von 1 zu 25.000 für das Auftreten falscher Spuren errechnet. Nahe an dieser Zahl liegen die vom BKA unter Verschluss gehaltenen Ergebnisse einer internen Fehleranalyse. In einem im Juli 2010 an den Innenausschuss des Deutschen Bundestages übermittelten vertraulichen Bericht heißt es, dass die interne BKA-Gruppe 74 sogenannte Spur-Spur-Serien gefunden habe – DNA-Spuren, die ähnlich wie beim Phantom von Heilbronn mit hoher Wahrscheinlichkeit derselben noch nicht bekannten Person zugeordnet werden können. Sieben der Serien hatten die zuständigen Landeskriminalämter bis letzten Sommer tatsächlich als Kontaminationen bestätigt. Bei 185.000 Spurensätzen in der DAD entsprechen die sieben bestätigten Fälle einer Trefferquote von 1 zu 26.000.